Test - Tyranny : Genial: so viele Entscheidungen, so viele Möglichkeiten
- PC
Da ist es also, das neue Rollenspiel von Obsidian Entertainment beziehungsweise von Paradox: Tyranny. Bereits im Vorfeld von vielen als Lückenfüller abgestempelt, der uns lediglich die Wartezeit auf Pillars of Eternity 2 erleichtern soll, hat dieser Titel etwas geschafft, was nur wenigen gelingt, die im hart umkämpften Rollenspielgenre überleben wollen: Er hat uns überrascht, und zwar auf eine sehr positive Art und Weise. Aber fangen wir ganz von vorne an.
Viele von uns wissen eigentlich gar nicht, was sie wollen. Besonders jene unter uns, die sich auf ein bestimmtes Genre versteift haben und nach Jahrzehnten der gesammelten Erfahrung immer noch das Neue im Altbekannten suchen – einen Funken Einfallsreichtum, den wir so oder zumindest in dieser Form noch nicht erblicken durften. Für jeden sieht dieser Funke anders aus, aber stets löst er ein Verlangen nach mehr aus, das schnell ein Extrem erreichen kann und sich schlagartig in etwas Negatives verwandelt.
Manche singen hier das leidige Lied von Grafik und fps. Andere dudeln auf ihrer Harfe eine langatmige Melodie über den Rollenspielanteil und die Persönlichkeitsentfaltung. Dann wären da noch die neuen, punkigen Außenseiter, denen es gar nicht groß und umfangreich genug sein kann. Und vergessen wir nicht jene, die sich kultige Text-Adventures zurückwünschen und ihrer Meinung in nostalgischer Verklärung mit dem Commodore 64 Ton und Klang verleihen.
Und natürlich die extremste Variante: alles zusammen. Wie ein Orchester, das unter strengen Budgetvorstellungen zusammengestellt wurde, weswegen man überall Abstriche machen musste: beim Talent der Musiker, bei der Qualität der Instrumente und dem musikalischen Verständnis des Dirigenten. Ein heilloses Durcheinander, das alles will und wenig schafft. Am Ende macht es eben doch nicht der Umfang aus, sondern was man mit dem anstellt, was einem zur Verfügung steht. Im Fall von Tyranny wurde auf dem Drahtseil getanzt. Der Entwickler wollte nicht alles im vollen Umfang nutzen, sondern die richtige Menge im richtigen Verhältnis präsentieren.
Klassisch neu
Zur Gänze hat das eigentlich noch nie bei einem Titel geklappt und so seid ihr nun wohl wenig überrascht, dass es auch hier nicht zur Verewigung in der Ruhmeshalle gereicht hat. Aber ihr werdet sehen, dass die Gründe, die gegen eine höhere Lobpreisung gesprochen haben, für einen Rollenspieler mit Leib und Seele im Meer der positiven Leistungen verschwinden. Grund dafür ist, dass die Entwickler zwei wichtige Sachen umgesetzt haben, die eine breite Masse von Gamern erwartet: den Spieler, euch, in das Geschehen einzubinden und eine spannende Geschichte zu erzählen.
Beides scheint zu Beginn nur schwerlich funktioniert zu haben, zeigt mit dem Verlauf der Story jedoch einen Kern, der größer und detaillierter gestaltet wurde, als man zuvor vermuten durfte. Als ich mich in einer völlig neuen Welt befand, die mich direkt in eine vorgepresste Rolle drückte und mit einer Umgebung konfrontierte, die eingeschränkt, fast wie in einem Vogelkäfig wirkte, war ich nicht sonderlich von den Socken.
Als Schicksalsbinder soll ich einem Haufen Rebellen verkünden, dass die Armeen des Tyrannen Kyros sich nähern und Tod und Zerstörung bringen, sofern man sich nicht ergibt. Klasse. Ich laufe also los und schlachte die Unschuldigen ab, während ich mich entscheiden muss, welche der beiden erwähnten Kriegsparteien nun das kleinere Übel darstellt. Was sich danach aber entwickelt, abzeichnet und immer wieder bestätigt, ist ein komplexes System, das einzig und allein auf zwei Sachen basiert: wer ihr seid und was ihr tut.
Jede Entscheidung, die ihr trefft – und Tyranny bombardiert euch mit solchen Momenten – hat größere und kleinere Auswirkungen: auf die Orte, die ihr besuchen könnt. Darauf, wie verschiedene Parteien auf euch reagieren und wie diese zu euch stehen. Auf den Ablauf von Missionen. Auf Belohnungen und vieles mehr. Man fühlt sich schnell nicht nur wichtig, sondern als hätte man tatsächlich eine Wahl, welchen Weg man wie gehen möchte. Als hätten die eigenen Entscheidungen wirklich Tragweite – und das haben sie auch.
Das beginnt bereits bei der Charaktererstellung. Ein kleiner Psychotest zeigt auf, wer ihr seid und was ihr vor den heutigen Ereignissen getan habt. Wo ihr steht und welche Richtung ihr einschlagen könnt. Eure Antworten hier haben Auswirkungen auf die ganze Spielwelt, fesseln euch jedoch zu keiner Sekunde. Ihr entscheidet, wie ihr eure Aufgaben löst, wem ihr vertraut, wen ihr tötet und wie ihr kämpft. Eure Grundwerte gestalten eine Ausgangsposition, aber ihr definiert den Rest.
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