Test - Xenoblade Chronicles: Definitive Edition : Das vielleicht beste JRPG aller Zeiten kehrt zurück
- NSw
Vor fast zehn Jahren wurden Xenoblade Chronicles und ich beste Freunde. Heute ist Klassentreffen und die Nervosität steigt, ob ich meinen Kumpel von damals noch erkennen werde.
Klassentreffen sind eine mentale Herausforderung. Freunde und Feinde von damals haben alle mehr oder minder dieselben Startbedingungen genossen. Hinter der Fassade des freudigen Wiedersehens sind sie immer auch ein Maßstab dafür, was man im direkten Vergleich mit seinen Klassenkameraden aus seinem Leben gemacht hat. Wer hat Kinder? Wer das schicke Haus? Ist der Klassenclown nun Pfarrer? Erkenne ich die Gesichter überhaupt noch? Und wer sieht selbst heute noch unverschämt gut aus?
Während der erblich bedingte Haarausfall meinen Frisurvorstellungen inzwischen einen Strich durch die Rechnung macht und meine Wirbelsäule in den letzten zehn Jahren etwa die Belastbarkeit eines Regenwurms erreicht hat, hat dieser eine Klassenkamerad alles erreicht: Damals wurden wir beide von den meisten übersehen, heute kennt zumindest ihn fast jeder. Und obwohl wir beide dem selben zeitlichen Verfall unterliegen sollten, sieht Xenoblade Chronicles anno 2020 einfach fantastisch aus.
“Du hast doch was machen lassen!”, frage ich ganz offen heraus, ohne ein erschrockenes “Nein!” zu erwarten. Im Verlauf des Gesprächs erfahre ich, dass nicht nur ein wenig überaltertes Interface vom Unterbauch abgesaugt wurde, sondern auch, dass es da eine ganz tolle Spezialklinik in der Türkei gebe, die Texturen und Auflösung in einer Kombi-OP auf Vordermann bringe. Zum halben Preis!! Nervöses Lachen meinerseits, während ich in Gedanken bei meinen Nasolabialfalten bin, die in ein paar Jahren wie zwei ausgespülte Täler nach einer Gletscherschmelze aussehen werden.
Obwohl der plastische Chirurg ganze Arbeit dabei geleistet hat, dieses Rollenspiel aufzuhübschen, das in der Klasse Wii schon immer in die hintersten Reihen auf Klassenfotos geschoben wurde, wurde an der Naht unsauber gearbeitet. Nicht genug, um von einem Kunstfehler zu sprechen, aber ausreichend, um dem Gegenüber ins Auge zu springen. Vielleicht liegt es an meinen Maulwurfsaugen, aber richtig scharf sieht Xenoblade Chronicles auch heute trotz Facelift nicht aus. Aber er war ja schon damals nicht unbedingt die Zier seiner Art. Mich störte das kaum. Damals wie heute sind mir die inneren Werte, toll geschriebene Charaktere, ein befriedigendes Kampfsystem und eine wendungsreiche Geschichte einfach wichtiger.
Das war vermutlich auch der Grund, weswegen wir uns 2011 anfreundeten. Durch Xenoblades älteren Bruder Baten Kaitos, den ich schon einige Jahre länger kannte, wusste ich, dass der jüngere Familienspross eine gute Kinderstube genossen hatte. Ihre Eltern Monolith und Soft gaben sich stets größte Mühe, ihrem Nachwuchs das Wichtigste mit auf den Weg zu geben.
Während mein alter Kumpel über erst auf den zweiten Blick erkennbare Eingriffe ins Schwafeln gerät, irgendetwas von wegen praktischer Zusatzfunktionen innerhalb seines Harmoniediagramms und einer direkten Wegbeschreibung auf der Minimap - was haben wir uns damals auf der Suche nach geheimen Orten verlaufen - schaue ich mich unauffällig im Raum um und werfe einen Blick auf meine übrigen Klassenkameraden. An einem Tisch stehen Wii Fit und Just Dance 3, die miteinander tratschen und schrill gackern, als wären sie noch immer Teenager und nie einen Tag getrennt gewesen. Neben ihnen steht eine Schale beträchtlicher Größe, die vor kurzem noch mit Bowle gefüllt war.
Unweit entfernt von uns steht Metroid Prime Trilogy, die sich auf dem Handy tippend alle Mühe gibt, so zu tun, als würde sie unsere Unterhaltung über Schönheitsoperationen nicht belauschen. Bis plötzlich ein unüberhörbares “Hier befinden sich Remaster-Kliniken in Ihrer Nähe” aus ihrem Smartphone quäkt. Es ist ein ausgelassener Abend und Xenoblade und ich schwelgen in Erinnerungen an die gute alte Zeit. “Weißt du noch, wie viel Zeit wir in unserer Jugend miteinander verbracht haben? Über 300 Stunden!” Natürlich weiß ich es, so viel Zeit hatte ich bis dahin nur mit Pokémon verbracht, aber damals interessierte ich mich kaum für etwas anderes.
Mit Xenoblade Chronicles war es anders. Egal wie viele mäßig kreative Sidequests er mir auf inflationäre Weise vorgeschlagen hatte, ich erledigte sie, einfach, weil ich froh war, Zeit mit ihm in seiner Welt verbringen zu können. Ich konnte guten Gewissens behaupten, einen Freund zu haben, den ich in- und auswendig kenne. Mit all seinen Macken. Dazu zählte vor allem Xenoblades Redseligkeit, wenn wir über Kämpfe debattierten. Noch heute kann ich keine Dokumentationen über wilde Armas ansehen, ohne dass mir seine “We can definitely do thises!” und “Piece of Cakes!” in den Ohren klingeln.
Mein Kumpel kann mir die Gedanken offenbar vom Gesicht ablesen, und versichert mir, dass er an sich gearbeitet habe und heute auf Wunsch weniger quassele, als sich Just Dance 3 mit einem flatschenden Geräusch auf den Parkettboden erbricht. Wii Fit, nun gar nicht mehr zu Scherzen aufgelegt, rät ihr zu tiefen Bauchatmungen. Manche Dinge ändern sich wohl nie. Um von der hässlichen Szene abzulenken ergreift The Legend of Zelda: Skyward Sword, mit dem ich nie wirklich auf einer Wellenlänge war, ein Mikrofon und kündigt durch ohrenbetäubende Rückkopplungen aus dem Verstärker ein wenig musikalische Untermalung an.
Da fällt mir eines ein: “Spielst du eigentlich noch immer in einer Band?” Xenoblade bejaht und schiebt sofort hinterher, dass ihre Klassiker wie “Gaur-Plane” und “You Will Know Our Names” nun noch besser klingen würden, sie für Fans auf Nachfrage aber immer noch die alten Versionen ihrer Hits spielen würden.
Wir reden noch ein ganzes Weilchen weiter, ohne weitere Zwischenfälle, bis es allmählich schon dunkel wird. Ich blicke auf die Uhr und bin entsetzt: Oh Gott, es ist Reyn-Zeit. „Schon so spät?!” Wir tauschen Nummern aus und schwören uns, den Kontakt nicht wieder einschlafen zu lassen. Schon nächste Woche wollen wir uns noch einmal in Ruhe treffen. Offenbar möchte Xenoblade mir noch eine völlig neue Geschichte namens “Die verbundene Zukunft” erzählen, die er mir vor fast zehn Jahren verschwiegen hatte. Ich raffe meine regenwurmartige Wirbelsäule auf, wir umarmen uns zum Abschied und gehen. Das Klassentreffen hätte wirklich schlimmer sein können.
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