Test - Rocksmith+ : Der beste und zugleich schlechteste virtuelle Gitarren-Trainer
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Das Jahr 2010 war für Musikspiele Untergang und Aufstieg zugleich. Die Ära der Plastikinstrumente neigte sich dem Ende zu, während echte Gitarren und Bässe in den Vordergrund rückten. Zuerst in Rock Band 3 von Harmonix, ein Jahr später dann bei Rocksmith von Ubisoft, das im Jahr 2014 ein Update für die damals neuen Konsolen Xbox One und Playstation 4 abstaubte. Doch der Hype ebbte mit den Jahren wieder ab. Mit Rocksmith Plus, das auf absehbare Zeit nur für den PC erhältlich ist, möchten die Franzosen dem Mix aus Musikspiel und Lernprogramm neues Leben einhauchen, doch im Modernisierungsprozess ging einiges verloren.
Gitarre lernen per Videospiel - das klingt doch viel spaßiger als trockenes Bücherwälzen, oder? Dass dem tatsächlich so ist, bewies Ubisoft 2011 und 2014 mit dem keineswegs perfekten, aber allemal gut durchdachten Musikspiel Rocksmith, beziehungsweise seinem leicht verbesserten Nachfolger Rocksmith 2014. Beide Ableger erweiterten das Guitar-Hero-Notensystem um etliche Feinheiten und zusätzliche Ebenen, um Videospiel-Konsumenten eine Gitarren- und Bass-Notation zu liefern, die sie auf Anhieb verstehen.
Zumindest schematisch. Da echte Gitarren und Bässe standardmäßig mit sechs beziehungsweise vier Saiten zu je 24 Bünden ausgestattet sind, ergeben sich nach Adam Riese 96 bis 144 mögliche Töne. Weit mehr als die lächerlichen 5 horizontal aufgereihten Knöpfe einer Plastik-Axt, und so gestaltet sich das Lesen und das Interpretieren der heranzoomenden-Rocksmith-Notation komplizierter als bei Guitar Hero. Vier oder sechs farbig markierte Reihen stehen für die Saiten, während die Spuren der Notenklötzchen bei Bedarf nach links oder rechts scrollen, je nachdem, wo die Greifhand des Gitarristen gerade hin soll.
Sorgloses „Pick-up-and-Play“ konnte Rocksmith aufgrund dessen zwar noch nie liefern, aber nach einer (nicht unbedingt kurzen) Eingewöhnungszeit erweist sich das System auch heute noch als ad hoc lesbar - und als genial, weil es mithilfe eingeflochtener Symbole und Grafikfeinheiten tonnenweise Information vermittelt. Ubisofts Musikspiel galt lange Zeit als Geheimtipp für spaßige Übungsstunden und erarbeitete sich einen Ruf als fantastischer Mittelweg zwischen Videospielspaß und ernsthaften Lernambitionen.
Da das neue Rocksmith+, das vor kurzem erschienen ist, grundsätzlich auf derselben genialen Notation basiert, stünde einem Revival der Marke nichts im Weg. Beim genau Hinschauen erkennt man sogar einige wertvolle Verbesserungen, die ein paar der großen Kritikpunkte am Notensystem ausbügeln. So lässt sich nun eine Tabulatur-Ansicht zuschalten, die Gitarristen ohne Videospiel-Erfahrung leichter interpretieren können. Wobei sie leider nicht selbstständig scrollt, sondern umblättert, was den Lesefluss hindert. Außerdem werden Arpeggien nun besser zusammengefasst und auch Zwei-Finger-Akkorde (etwa verkürzte Power-Chords und Sus-Akkorde) mit ihrem Namen ausgewiesen.
Sehr schön, denn damit wären auch die letzten, einst missverständlichen Lücken in der Notenvorgabe geschlossen. Eigentlich könnte Rocksmith+ anhand dieser Aufwertungen einen Siegeszug im ausgedünnten Segment der Musikspiele starten, gäbe es nicht ein paar Design-Entscheidungen, die mir Kopfschmerzen bereiten. Es sind viele kleine und große Schnitzer, die mir die Frage aufdrängen, was an diesem Rocksmith überhaupt das Namensanhängsel Plus verdient hätte. Aber nicht so schnell. Erst einmal sollte geklärt werden, wie Rocksmith+ grundsätzlich funktioniert.
Kabel oder App?
Auch wenn Musikspiele inzwischen aus der Mode gekommen sind, dürfte ihr Prinzip weitreichend bekannt sein. Man bekommt eine Notenvorgabe, die zum Playback passt, und soll sie nachspielen. Je mehr der vorgegebenen Noten man trifft, desto besser die Bewertung. Rocksmith+ verzichtet dabei auf einen Highscore. Lediglich eine Prozentangabe der absolvierten Notationsvorgabe dient als Vergleichswert.
Drei Methoden ermöglichen den Vergleich. Entweder man nutzt das Mikrofon seines Smartphones, das über die kostenlose Rocksmith+ App in Echtzeit mit den Ubisoft-Servern kommuniziert, oder man verwendet eine Analog-Digital-Wandung am PC. Das funktioniert am einfachsten mit dem sogenannten Real-Tone-Kabel, das bereits bei den früheren Iterationen von Rocksmith zum Einsatz kam. Der Klinkenstecker gehört in die Gitarre, das USB-Ende in den PC und los geht es. Zumindest, wenn man keine Probleme mit weiteren Soundkarten oder Mikrofonen bekommt. Im Testlauf war ich gezwungen, sämtliche externen Tonquellen, also Mikrofone, interne Video-Capture-Karten, Webcams und so weiter, manuell abzuschalten oder auszustöpseln, weil das Spiel sie immer wieder als vermeintliche Soundquellen oder sogar als Abnehmer meiner Gitarren ansah. Danach lief aber alles reibungslos. Wer ein solches Real-Tone-Kabel nicht mehr vorrätig hat, kann es neuerdings wieder für 30 Euro im Online-Handel erwerben. Alternativ unterstützt Rocksmith+ Eingabegeräte und externe Musiker-Soundkarten, die mit Realtecs Asio-Treibern funktionieren.
Da ich über kein Asio-Gerät verfüge, griff ich für diesen Test auf die App und ein Real-Tone-Kabel zurück. Meine Begeisterung hielt sich bei der App in Grenzen, obwohl sie in der Theorie gut funktioniert und gespielte Noten mit erstaunlich niedriger Verzögerung weiterleitet. Nutzt nur nichts, wenn sie nicht zuverlässig ist. Sowohl mit einer Applause-Western-Gitarre (ein Ovation-Nachbau mit Stahlsaiten) als auch mit einer Epiphone Les Paul am Verstärker verzeichnete ich immer wieder falsch interpretierte oder gar nicht erst registrierte Noten. Vor allem tiefe Töne auf der E-Saite im Bereich E, F, Fis und G bereiteten regelmäßig Probleme, egal ob sie verzerrt oder clean aus dem Boxen kamen. Die App mag in geschätzt 95% der Spielzeit alle Töne korrekt wahrnehmen, trotzdem verärgern die Ausfälle so stark, dass einem schnell die Lust vergeht.
Noch schlimmer ist es mit einem Bass. Ich habe versucht, mein Smartphone vor dem Verstärker, dahinter, obendrauf und auch mal weiter entfernt zu positionierten, mal auf dem Boden liegend, um Schwingungen am Teppich abzugreifen und mal etwas höher. Trotzdem keine Chance. Zuverlässig war die App nur bei Noten auf der A-Saite und darüber. Darunter gab es zwar hin und wieder registrierte Anschläge, aber diese waren gefühlt zufällig. Sicherheitshalber nahm ich ein zweites Smartphone zur Hand und ging den Ablauf erneut durch, jedoch ohne besseres Ergebnis.
Aus diesem Grund muss ich leider von der Nutzung der App abraten, obwohl sie laut Ubisoft geschaffen wurde, um den Spaß an Rocksmith+ zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu garantieren. Wer keine genaue Auslesung haben will, kann sie als Alternative für unterwegs in Betracht ziehen, zumal sie einen guten Tuner beinhaltet. Für den regelmäßigen häuslichen Gebrauch rate ich jedoch dringlichst zur Anschaffung des Real-Tone-Kabels, das ausnahmslos zuverlässig ist, sofern die Gitarre oder der Bass nicht zu sehr schnarrt.
Das löchrige Abo-Modell
Solltet ihr nicht noch ein Real-Tone-Kabel vorrätig haben, dann sind das die ersten 30 Euro, die ihr fest einplanen müsst. Allerdings werden es nicht die letzten sein, denn anstelle eines in sich abgeschlossenen Spiels mit fester Playlist setzt Ubisoft nun auf ein Abo-Modell. 15 Euro je Monat, beziehungsweise 8,33 Euro, sofern man sich für ein volles Jahr im Voraus bindet, sind eine Stange Geld, wenn man Quantität und Qualität der aktuell verfügbaren Songliste dagegen aufwiegt. Laut den offiziellen Angaben der Webseite sollen es um die 5000 Tracks gehen. Klingt gar nicht mal so schlecht, ist aber eine krasse Mogelpackung. Sortiert man die Liste nach Arrangements (Lead-Gitarre, Rhythmusgitarre und so weiter), dann geht es nicht um 5000 individuelle Musikstücke, sondern um 5000 Notationen, die nach Abzug aller Varianten auf gerade mal knapp über 800 Musikstücke passen.
800 und ein paar Zerquetschte sind auch nicht übel, sagt ihr? Könnte man meinen, wenn die allermeisten der rund 800 Titel nicht aus obskuren B-Seiten wenig bekannter Künstler bestünden. Ich möchte keineswegs in Übertreibung verfallen. Bekannte Namen findet man durchaus in der Liste. Etwa The Cure, Alice Cooper, Whitney Houston, Willie Nelson, Boston, The Clash, Peter Tosh, Billie Joel und einige andere. Aber einerseits fehlen ihre bekanntesten Hits und andererseits sind sie Ausnahmen in einem Wust drittklassigen Füllmaterials. Selbst wenn man mal etwas Bekannteres findet, handelt es sich in den meisten Fällen um einen qualitativ fragwürdige Konzert-Mitschnitt, der wahrscheinlich weniger Tantiemen kostete als die Studioaufnahme.
Es lässt sich nicht schönreden, denn ein Musikspiel steht und fällt mit der Musik, die es liefert: Rocksmith+ hat die schlechteste Setliste seit Konamis Super-Reinfall Rock Revolution aus dem Jahr 2009, und das will was heißen. Aber warum wurde am falschen Ende gespart? Wer Gitarre lernen und üben will, tut das doch in den meisten Fällen, weil er den Größen des Rock n’ Roll nacheifert. Queen? Queens of The Stone Age? The Who? Foo Fighters? Nirvana? System of a Down? Alles Fehlanzeige! Von Metallica hat sich ein einziger Track auf die Setlist verirrt, und wahrscheinlich nur aufgrund seines Stranger-Things-Hypes.
Was dagegen „I wanna dance with somebody“ von Whitney Houston auf der Setliste sucht (oder einige Vertreter aus rein elektronischen Musikgenres), dürfte eines der größten Geheimnisse des Universums darstellen. Nichts gegen Blues und Jazz. Ein paar obskure Titel aus der World-Musik-Sparte, etwas Hip Hop? Klar, geht immer, gerade für Bass-Spieler. Auch Country schadet ganz bestimmt nicht. Aber das Verhältnis ist in Rocksmith+ völlig falsch. Wer um alles in der Welt braucht geschlagene 33 Songs (!) von Willie Nelson in einem Musikspiel? Wo sind denn die echten Gitarren-Helden? Große Vorbilder vom Schlag eines Al Di Meola sind höchstens mit einem oder zwei Titel vertreten. Yngwie Malmsteen, Jimi Hendrix, Slash oder Stevie Ray Vaughan dagegen gar nicht. Es ist wahrlich traurig, wie wenig Qualität und Quantität Ubisoft für so viel monatliche Kohle an den Mann bringen will.
Didaktisches Chaos
Das ist nicht nur der Abwechslung und der musikalischen Qualität halber bedauerlich, sondern auch vom didaktischen Standpunkt aus. Die Setliste ist so beliebig, dass ihr keinerlei System für den Lern-Anteil zugrunde liegt.
Gitarre und Bass lernt man durch Wiederholung. Durch Akkorde, die Anfängern und Fortgeschrittenen entgegenkommen, da sie nah beieinander liegen, sich wenig von bekannten Stammakkorden unterscheiden oder einfach nur in den Bünden verschoben werden. Gleiches gilt für das Picking, also das Anschlagen einzelner Saiten. Ein echter Lerneffekt stellt sich nur dann ein, wenn man bereits Gelerntes an anderer Stelle neu verwendet.
Aufgrund der eigenwilligen Musikauswahl, der sowohl das didaktische Konzept als auch ein Leitfaden fehlt, kann Rocksmith+ keine logische Progression anbieten. Ihr werdet sozusagen mit den Worten: „mach mal wie du denkst“ vor die Setliste gesetzt. Die Songs werden zwar in unterschiedliche Suchkriterien unterteilt – nach Genre, nach Schwierigkeit, nach Jahrgang und so weiter – doch gerade innerhalb der Schwierigkeitsgrade besteht kein logisches System. Da werden Songs als Anfänger-Material ausgewiesen, die neben einer Handvoll leichter Akkorde auch ein paar krasse Fingerverknoter mitbringen. Das ergibt keinen Sinn, selbst wenn Rocksmith+ einen in 100 Schritten frei definierbaren dynamischen Schwierigkeitsgrad für alle Songs anbietet. Die Dynamik des Anspruchs-Sliders beschneidet nämlich nur die nötigen Greif- und Anschlags-Techniken. Akkorden verkürzt der Slider in einzelne Pickings und Melodiefolgen reduziert er auf Basistöne, sodass die Lücken zwischen den Noten größer werden. Schafft man ganze Abschnitte dieser verkürzten Notation fehlerlos, so kommen automatisch neue Anteile hinzu.
Über die Vor- und Nachteile dieses Systems kann man lange diskutieren. Ich persönlich bevorzuge einen festen Schwierigkeitsgrad, der mich nicht aus heiterem Himmel mit einer Steigerung konfrontiert, obwohl ich mich gerade erst an eine gewisse Notenfolge gewöhnt habe. Da gehen die Meinungen sicher auseinander. Trotzdem fehlt eine nachvollziehbare Progression zwischen den einzelnen Songs. Anfänger müssen sich durch einen Wust an Musik wühlen, bei denen verwendete Akkorde zwar voraus aufgelistet werden und in Stop-and-Go-Methode geübt werden können, aber sie können nicht nach Songs suchen, die Akkorde verwenden, die sie schon kennen.
Viel nützlicher als das grenzenlose „lern, was du willst“-System wäre eine Anleitung, die Anfänger und Fortgeschrittene bei der Hand nimmt. Selbst wenn man sich ein wenig auskennt und versucht, eigenständig einen Leitfaden zu erstellen, stößt man bei Rocksmith+ schnell auf Granit. Wo ist die Möglichkeit, eine eigene Setlist zu speichern? Gibt es nicht. Wo sind die klassischen Lern-Songs? House of the Rising Sun? Smoke on the Water? Brown Eyed Girl? Von Letzterem steht nur eine schnelle und viel zu hackige Punk-Version von Lagwagon zur Verfügung. Es ist zum Mäusemelken! So viel Potenzial verschenkt.
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Spaß haben kann man mit Rocksmith+ durchaus. Das Spielprinzip nimmt dadurch ja keinen Schaden, was allen, die schon ein wenig Gitarre oder Bass spielen können, eine spaßige Übungsgrundlage offeriert. Aber das Ziel, eine bessere Lernsoftware zu stellen als in der 2014er-Iteration, verfehlt Ubisoft um Meilen. Zugegeben, nicht alles am neuen Ansatz ist schlecht. Ich finde es zum Beispiel hervorragend, dass Bassisten nicht immer nach strenger Notation spielen müssen. Einige Songs geben euch Harmonie-Blaupausen mit der Freiheit, eigenständiges Improvisieren zu üben. Zudem darf man sich an der Notation beteiligen, denn Ubisoft begrüßt Notations-Arrangements, die von der Community eingereicht werden. Trotzdem überwiegen die Nachteile der neuen Designphilosophie klar deren Vorteile.
So trocken wie die Sahara
Das liegt leider auch an den zwar sehr professionell gestalteten, aber furztrockenen Tutorial-Anteilen des Programms. Schön gestaltete Videos und eine Handvoll nützlicher Übungs-Tracks vermitteln euch wichtige Techniken sowie Fingerfertigkeit an Gitarre und Bass, egal ob ihr lernen wollt, wie man effizient Saiten überspringt, wie man Hammer-ons und Pull-offs vollzieht oder wie man, ohne die Hand auszuleiern, Tremolos bzw. Vibratos aus dem Hut zaubert. Guter Inhalt mit dem Charme einer zähen Uni-Vorlesung.
Dieser allzu ernste und trockene Ansatz hätte vermieden werden können, wenn Ubisoft denselben Kniff verwendet hätte wie 2014. Anstelle von Frontalunterricht implementierte man damals die sogenannte Guitarcade, bestehend aus einer Reihe arcade-typischer Mini-Videospiele, die mit dem Instrument gesteuert wurden. Es mag komisch wirken, ein Prügelspiel oder einen Racer mit der Gitarre zu bedienen, aber der Lerneffekt war außerordentlich hoch. Man verknüpfte den Umgang mit den Saiten quer und gewöhnte sich somit viel leichter an deren Position. Noch dazu wurde dadurch spielerisch Musiktheorie vermittelt, die ganze Wälzer gefüllt hätte. Skalen, Pentatonik und mehr. Man lernte handfestes Musikwissen ohne Anstrengung. Es ging durch Arcade-Spielregeln einfach in Fleisch und Blut über.
Kurzum: die Guitarcade war brillant und das unzweifelhaft beste Feature, das ein Musikspiel jemals mitbrachte. Nur ist es in Rocksmith+ nicht mehr dabei. Warum? Ich begreife es nicht, denn das ersatzlose Aussparen der Guitarcade kann ich nur als Selbstverstümmelung verstehen. Ungefähr so als hätte man bei Call of Duty den Multiplayer-Modus gestrichen.
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