Test - Gran Turismo Sport : Sonys Finale im heißen Rennspiel-Herbst
- PS4
Der heiße Rennspiel-Herbst erreicht mit der Veröffentlichung von Gran Turismo Sport seinen Zenit. Welches Vollgas-Spektakel darf's denn sein? Project Cars 2, Forza Motorsport 7 oder Gran Turismo Sport? Die Qual der Wahl im Dreigestirn der Simcade-Racer bleibt euch überlassen, denn jeder der drei Konkurrenten hat seine ganz speziellen Stärken und Schwächen. So auch der Dienstälteste aus dem Hause Polyphony Digital.
Erstaunlich, wie stark eine Marke in den Köpfen der Leute hängenbleiben kann. Fragt man Durchschnittskonsoleros ohne ausgeprägte Rennsportaffinität nach ihrem realistischsten Racing-Erlebnis, so fällt in geschätzten neun von zehn Fällen der Name Gran Turismo, der seit jeher mit dem Untertitel „The Real Driving Simulator“ hausieren geht.
Ein ganz schön dicker Aufstrich für eine Rennspielserie, die nie das Niveau eines realistischen Simulators erreichen konnte. Gegen Vollblut-Sims des Typs Assetto Corsa, Race Room Experience oder Automobilista konnte Polyphonys Werk in keiner Iteration anstinken. Auch der neueste Ableger mit Namen GT Sport kann von diesem Anspruch nur träumen, ob nun mit FIA-Zertifikat oder nicht. Aber: Ist das denn so schlimm? Wer will denn bei hohen Geschwindigkeiten auf engen Kursen ständig gegen das Auto kämpfen? Hartgesottene Cracks vielleicht, aber die breite Masse sicherlich nicht.
Bei der Zielgruppe der vornehmlich mit dem Joypad spielenden, normalsterblichen Konsolenkäufer ist ein gutes Fahrgefühl viel wichtiger als hochgestochener Realismus. Die Beschleunigung fühlen, die Gewichtsverlagerung in Kurven vernehmen, den Geschwindigkeitsrausch auskosten – das sind die Sensationen, die Gran Turismo seit jeher exzellent vermittelt.
Spaß vor Realismus
Bei GT Sport ist das nicht anders. Die Federung vieler Autos fühlt sich derart weich und nachgiebig an, dass man sich augenblicklich in einem der berühmten „schwebenden“ Mercedes-Limousinen aus den Achtziger- und Neunzigerjahren wähnt. Selbst eine unmodifizierte Familienkutsche wie ein Renault Clio zieht laut Kamerabewegung beim Anfahren das Chassis nach hinten, als sei die Federung auf Rallye-Niveau justiert.
Zum Glück verhalten sich die Fahrzeuge nicht wirklich so, wie sie sich anfühlen, denn eine derart weiche Federung wäre für ein Asphaltrennen höchst ungünstig, weil übersetzungsmindernd. Auch wären Kurveneinschläge in diesem Fall sehr schwammig. Ist in der Praxis aber nicht so. GT Mastermind Kazunori Yamauchi möchte lediglich ein besonders intensives Fahrgefühl an den Spieler weiterreichen, und das schafft er mit Bravour. Fahrzeuge in GT Sport um die Kurven zu jagen, fühlt sich einfach super an. Das weitergereichte Verhalten, das viel Ausdruck über die Bewegung der ungewöhnlich hoch platzierten Kamera erhält, mag übertrieben und somit nicht punktgenau realistisch sein, aber es bereitet ungemein viel Spaß.
Nur um Missverständnissen vorzubeugen: Gran Tursismo Sport ist kein Arcade-Rennspiel vom Schlage eines Need for Speed oder gar Ridge Racer. Das Programm versucht durchaus, die Realität einzufangen, nur wählt es dafür andere Stilmittel als eine übliche Sim. Bleifüße und Rumpelpiloten haben keine Chance auf gute Platzierungen
Trotzdem: Virtuelle Rennfahrer mit hohen Ansprüchen müssen eben jene auf mehreren Ebenen zurückschrauben. Gefahren wird beispielsweise stets bei gutem Wetter, auf ein Schadensmodell wird in den meisten Wettbewerben verzichtet (es ist in privaten Rennen aber zuschaltbar) und wer sich mit den unteren Schwierigkeitsgraden begnügt, bekommt automatisch Fahrhilfen aufgedrückt. Dabei geht es nicht nur um Stabilitätskontrolle, ABS und Ähnliches, sondern um aktive Gegenlenk-Automatik und Bremshilfen.
Erfreulich ist hierbei ein realistischer Sportsgeist. Die zuschaltbare Ideallinie ist zwar nicht dynamisch und zeigt somit keine Beschleunigungs- oder Bremsmomente an, aber Hilfen dieser Art könnt ihr euch über Pylonen am Straßenrand indizieren lassen. Eine sehr stilvolle Alternative, das muss man wirklich mal betonen! Abkürzungen querfeldein werden durch Zeitstrafen geahndet. Löblich!
Wenig offline ...
Für Kenner der inzwischen zwanzig Jahre alten Serie ist die Philosophie hinter dem Fahrgefühl nichts Neues. Doch es sind gerade die Kenner, ja die harten Fans, die sich bei GT Sport an so manche neue Spielregel gewöhnen müssen. Der Elefant im Raum, den wir gleich mal zur Seite schaffen sollten, wäre die fehlende Einzelspieler-Kampagne.
Für virtuelle Rennfahrer, die Online-Rennen bevorzugen, mag das nicht besonders dramatisch klingen. Unterm Strich ist es aber für alle ein Verlust, denn spätestens in dem Moment, wenn Sonys Server flach liegen, ist Ebbe mit Rennen fahren. Was dann bleibt, ist der sogenannte Arcade-Modus, in dem man sich einen Wagen und eine Strecke aussucht (sofern sie entsprechend der erreichten Erfahrungsstufe freigeschaltet wurde) und aufs Geratewohl ein Einzelrennen durchzieht. Ohne Kontext, ohne nachvollziehbaren Erfolg abseits der üblichen Erfahrungs- und Credit-Ausbeute. Und nicht zuletzt: mit einer sehr gemäßigten KI, die alle Rennen statisch absolviert. Da ist keinerlei Aufregung drin.
Wie viel Verlust Gran Turismo Sport als Produkt erleidet, wird erst klar, wenn man den Rest des Einzelspieler-Angebots mit in die Rechnung nimmt. Zur Wahl steht einerseits ein Fahrschule-Modus, der dem aus frühen GT-Iterationen ähnelt, aber diesmal erheblich einfacher ausfällt. In den ersten beiden Gran Turismos auf der Original-Playstation konnte man schon beim allerersten Bremstest verzweifeln. GT Sport wirkt dagegen großzügig. Wer eine Weile intensiv daran sitzt, knackt alle Prüfungen relativ frustfrei. Womöglich sogar mit einer durchgehenden Goldwertung, ein wenig Fleiß vorausgesetzt.
Außerdem steht eine Reihe an Rennszenarien zur Verfügung. Hier gilt es vornehmlich, einen Ausschnitt eines vorab bestimmten Rennens zu meistern, eine Anzahl Gegner auf engem Pass zu überholen oder inmitten einer schwierigen Kurvenkombination die Kontrolle zu bewahren. Die künstliche Intelligenz der gegnerischen Fahrer lässt aber auch hier zu wünschen übrig. Mehr als der Ideallinie zu folgen, haben eure Gegner nicht drauf. Unterm Strich hat sich Polyphony Digital also eine gut agierende KI gespart, und das ist fast schon ein schwererer Verlust als das Fehlen eines Einzelspieler-Rennkalenders.
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