Preview - Sherlock Holmes: The Awakened : Sherlock trifft Cthulhu: Spiele-Entwicklung in Zeiten des Ukraine-Krieges
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Wenn Spiele-Veröffentlichungen verschoben werden, dann wird das üblicherweise mit zusätzlichem Feinschliff begründet, vielleicht auch mit Quartalszahlen und in letzter Zeit auch häufig mit Corona oder Lieferengpässen. Doch die Mail, die mich von den ukrainischen Entwicklern bei Frogwares kürzlich erreichte, schockiert und berührt gleichermaßen.
Von „Selbstmord-Drohnen“ ist dort die Rede, die nahe der Büros einschlagen, und anhaltenden „Raketenangriffen, die Kiew seit Oktober“ gezielt unter Beschuss nehmen und daher die Entwicklung von Sherlock Holmes: The Awakened massiv beeinträchtigen. Aus der Ferne ist schwer vorstellbar, wie ein halbwegs normales Leben, geschweige denn Spieleentwicklung unter solchen Bedingungen überhaupt möglich sein kann.
Bereits die Entwicklung der Last-Gen-Version ihres letzten Spiels, Sherlock Holmes: Chapter One, fiel zeitlich genau in den Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Eine Pressemeldung informierte seinerzeit darüber, dass die Produktion an der Xbox-One-Version eingestellt worden war; die PS4-Version sollte dennoch fertiggestellt werden, auch wenn keiner so genau wusste, wie das unter diesen Umständen geschehen sollte. Denn all das schien mit einem Mal vollkommen irrelevant ab dem Moment, in dem die Entwickler auf die Gründe zu sprechen kamen: dass ihre Heimatstadt täglich bombardiert wurde, sie regelmäßig in Schutzbunkern Zuflucht suchten, Kollegen zur Verteidigung ihres Landes in den Krieg gezogen oder gar bereits gefallen waren.
Spiele-Entwicklung in Zeiten des Krieges
Vermutlich um tapfer zu demonstrieren, dass man sich von keinem Aggressor unterkriegen lasse, kündigte Frogwares im Mai 2022 ein neues Spiel unter dem Arbeitstitel Project Palianytsia an. Man habe „die Situation im Team weitgehend stabilisiert und sich daran gewöhnt, mit dem ständig im Hintergrund tobenden Krieg zu arbeiten“, lautet die verstörend nüchterne Schilderung der Entwickler. Eigentlich habe man schon vor einer Weile mit der Entwicklung an einem anderen, großen Open-World-Spiel begonnen, doch sähe man sich außer Stande, dieses unter den gegebenen Umständen zu vollenden. Daher verlagere man die Kapazitäten auf ein kleineres Projekt, das geradliniger und weniger umfangreich ausfalle und darum einfacher zu produzieren sei und für das man sich zusätzlich Unterstützung über Kickstarter holte. Frogwares ist ein unabhängiger Entwickler ohne großen Publisher mit passender Finanzspritze für Notfälle im Rücken.
Das neue Spiel wurde schließlich Ende Juli 2022 angekündigt: Sherlock Holmes: The Awakened, ein Remake ihres Spiels aus dem Jahr 2006, das von Grund auf neu entwickelt werden sollte, mit aktueller Grafik und in zeitgemäßer Umsetzung, inhaltlich aber eben schon weitgehend vollständig und daher verhältnismäßig leicht umzusetzen. Ein Veröffentlichungsdatum wurde seinerzeit nicht genannt. Ehrlich gesagt glaubte niemand von uns so bald wieder von dem Spiel zu hören, wenn überhaupt.
Im November dann die Meldung von Frogwares, die landesweiten Raketenangriffe hätten große Teile der Strom- und Wasser-Infrastruktur sowie das Internet in starke Mitleidenschaft gezogen, was zu „ständigen Stromausfällen, instabilem Internet und fehlender Heizung" in ihren Büros und Wohnungen führte. Durch diese „Unannehmlichkeiten“, wie es Head of Publishing Sergei Oganesjan in trotziger Untertreibung ausdrückt, sei die Entwicklung stark beeinträchtigt. Zwischen nüchternen Infos über den Zustand des Spiels und Beschreibungen der eigenen Situation finden sich unversehens auch immer wieder deutliche Worte gegen die russischen Invasoren: Man werde sich keiner „unfähigen und feigen Armee“ beugen, die es anscheinend nötig habe „Zivilisten verhungern und erfrieren zu lassen“. Stattdessen habe man Mittel und Wege gefunden, „mit diesen Hindernissen umzugehen und einfach weiter zu machen“.
In einem bewegenden Video mit dem Titel „Spiele-Entwicklung in Zeiten des Krieges“ schilderten die Entwickler ihre aktuelle Situation und wie sie ihren Alltag bestimmt: wie die Arbeitsprozesse umstrukturiert werden, um sie an die Gegebenheiten anzupassen, Teile davon ins Ausland verlagert werden oder Mitarbeiter selbst versuchen, das Land zu verlassen, und schließlich zeigt es auch Kollegen, die sich der Landesverteidigung angeschlossen haben und in Uniform Grüße von der Front schicken.
Die Entwicklung an Sherlock Holmes: The Awakened, so die deutliche Botschaft, gehe auf jeden Fall weiter und schreite trotz aller Widrigkeiten gut voran. Ein erster Trailer zeigte beeindruckendes Gameplay-Material in Unreal-Engine-4-Qualität. Die Veröffentlichung wurde offiziell auf Frühjahr 2023 gesetzt, insgeheim machte aber jeder erfahrene Spieleredakteur gedanklich ein Sternchen mit dem Vermerk „when it’s done“ dahinter. Ob der Termin nun tatsächlich gehalten wird oder nochmal verschoben werden muss, kann derzeit nur gemutmaßt werden. Dennoch befindet sich das Spiel offenbar - nicht mal ein Jahr nach seiner Ankündigung aus der Not heraus - in einem fortgeschrittenen Zustand, sodass wir in der Lage waren, eine erste spielbare Version auszuprobieren.
Es ist mir fast schon unangenehm, an dieser Stelle zu einem Thema überzuleiten, das im Vergleich zu dem soeben Geschilderten völlig unbedeutend, möglicherweise gar geschmacklos scheint, weil es sich dem banalen Vergnügen widmet, während sich die Menschen, die dahinter stehen, tagtäglich inmitten eines Krieges befinden, sie um ihr Leben und das ihrer Angehörigen bangen. Es erscheint mir geradezu pietätlos, an dieser Stelle über ein Videospiel zu sprechen, es auf Kategorien wie Spielspaß und Spannung abzuklopfen und nach Faktoren wie der Qualität von Spieldesign und Grafik einzuordnen. Doch letztlich geht es den ukrainischen Entwicklern genau darum bei dem, was sie im Moment unter größten Herausforderungen und Entbehrungen tun: ein Spiel zu entwickeln, damit es die ganze Welt erleben kann. Und dadurch letzten Endes auch einfach ihre Jobs und auch ihr Unternehmen zu erhalten. Deswegen schauen wir es uns jetzt gemeinsam mit euch an.
The Awakened: Sherlock Holmes trifft Cthulhu
Sherlock Holmes: The Awakened ist ein Remake des gleichnamigen Spiels von 2006, das ein ungewöhnliches Crossover zwischen den Detektiv-Abenteuern von Arthur Conan Doyle und dem Cthulhu-Horror von H.P. Lovecraft darstellte. Wenngleich das Remake die Handlung des Originals weitgehend übernimmt, wird sie an manchen Stellen stark verändert und erweitert, während das Spiel selbst von Grund auf neu in moderner Unreal Engine 4 entwickelt wird.
Die deutlichste inhaltliche Änderung betrifft die beiden Protagonisten Holmes und Watson: Diese werden im Vergleich zum Original deutlich verjüngt, sodass The Awakened nun als Fortsetzung zum letzten Spiel der Reihe fungiert, Sherlock Holmes: Chapter One, das gewissermaßen in Form eines (im Übrigen höchst gelungenen) Prequels die Jugendjahre des noch jungen Meisterdetektivs beleuchtete. Dieses breitete das Detektiv-Adventure erstmals auf der spielerischen Bühne einer Open World aus, The Awakened hingegen ist wieder deutlich linearer aufgebaut, vor allem eben aus den oben beschriebenen produktionstechnischen Gründen. Holmes und Watson treten jedoch abermals als junge Männer auf und verfügen entsprechend über dieselben (englischen) Synchronstimmen wie im Vorgänger, und auch die freundschaftliche Bande zwischen den beiden scheint noch frischer und weniger von Vertrauen gezeichnet als in den späteren Geschichten.
Ihr erster gemeinsamer Fall beginnt scheinbar recht gewöhnlich mit einer vermissten Person, führt sie aber schon bald auf die Spur eines mysteriösen Kultes, der dem Gott Cthulhu huldigt und auf die Erfüllung einer uralten Prophezeiung hinarbeitet. Die Ermittlungen führen die beiden schließlich an verschiedene Orte auf der ganzen Welt und lassen die Grenzen zwischen Realität und Wahnsinn zunehmend verschwimmen.
Im dritten Kapitel des Spiels, das wir etwa 40 Minuten anspielen konnten, führt sie die Spur einer halluzinogenen Droge in eine Irrenanstalt in den Schweizer Bergen. Die Kapitelüberschrift „The Mountain of Madness“ spielt sogar auf die wahrscheinlich bekannteste Geschichte aus dem Lovecraft-Œuvre an. Während sich Watson unter einem Vorwand als Besucher im Institut „Edelweiß“ vorstellt, hat sich Holmes als Insasse verkleidet dort Zutritt verschafft und geht den Machenschaften des Kultes in den unheimlichen Gängen des Asylums nach.
Sofort wird ersichtlich, dass die Entwickler nicht übertreiben, wenn sie davon sprechen, sie würden keine einzige Zeile Code des Originals wiederverwenden, sondern The Awakened von Grund auf neu entwickeln – allenfalls ein paar Grafikobjekte habe man aus dem Vorgänger Chapter One übernommen. Ansonsten erstrahlt auch The Awakened in derselben hochauflösenden Qualität wie dieser, in der abermals allenfalls die Gesichtsanimationen nicht ganz mithalten können, wie das in solcherlei Indie-Produktionen nunmal häufig der Fall ist.
Doch auch spielerisch erfährt The Awakened zahlreiche Änderungen, um sich inhaltlich und qualitativ stärker am Vorgänger aus dem Jahr 2021 zu orientieren. Immerhin hat sich die Reihe in den fast 20 Jahren seit dem Original stark weiter entwickelt, vor allem im Rätseldesign, das zwar schon damals durchaus außergewöhnlich, aber mitunter schon auch reichlich spröde und undurchsichtig auftrat.
Der recht kurze Ausschnitt, den wir spielen konnten, verfügte jedenfalls schon über all die Spielmechaniken, die auch Chapter One zu einer spielerisch abwechslungsreichen Detektivermittlung machten. In der Rolle des Meisterdetektivs suchen wir die Orte im Anstaltstrakt nach Hinweisen auf die schrecklichen Vorkommnisse ab, um diese anschließend in Holmes’ Gedankenpalast miteinander zu verknüpfen und derartig Schlussfolgerungen zu ziehen. Erst wenn wir bestimmte Erkenntnisse gewonnen haben, können wir andere Insassen darauf ansprechen oder Tathergänge wie in einer Art holographischen Simulation rekonstruieren.
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Die Demo endete mit einem Cliffhanger, der einen ersten Vorgeschmack auf die Überleitung ins Horrorgenre dieses eigenwilligen Crossovers gewährte: Eine offenkundig geisteskranke Insassin mit einer angeblich dämonisch besessenen, grausam entstellten Puppe kündet dort von einer Dimension des Wahnsinns, und auch wenn jeder mit ein bisschen Recherche die Geschichte dieses immerhin fast 20 Jahre alten Spiels einfach irgendwo nachlesen kann, lassen wir von weiteren Spoilern ab, da anzunehmen ist, das Viele das Original von damals eben noch nicht kennen.
Auffallend in unserer kurzen Demo war aber schon, wie spürbar gut die Verbindung des Sherlock-Holmes-Grundtons mit dem Cthulhu-Mythos harmoniert – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass ja auch die Romane schon immer mal wieder mit dem Horrorgenre zumindest liebäugelten, man denke etwa an den Hund von Baskerville oder die Morde von Jack the Ripper, die regelmäßig als Inspirationsquelle zwischen den Zeilen durchschimmern. Vor allem aber ist es das stets unterschwellig präsente Ringen der Kraft eines genialen Geistes mit der Einbildung des Opiumrausches, das einen spannenden thematischen Bogen spannt zu dem Wechselspiel aus Realität und Wahnsinn, weltlichem Verbrechen und Wirken eines bösartigen Gottes, das die Faszination von Sherlock Holmes: The Awakened grundlegend bestimmen dürfte.
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