Test - Overboard! : Cool: Das erste Roguelike-Adventure!
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Overboard! beginnt an Deck eines Schiffes. Genauer gesagt eines Ozeandampfers. Wir schreiben das Jahr 1935. Die mondäne Veronica Villensey und ihr Mann wandern am Vorabend des sich abzeichnenden Krieges in die USA aus. Gemeinsam blicken sie in einer sternklaren Nacht in den Himmel, träumen von einer besseren Zukunft in der Neuen Welt, hängen im Schein des Mondlichts romantischen Gefühlen nach und dann … wirft sie ihren Mann über Bord! Das neue Spiel der Macher von Heaven‘s Vault und 80 Days ist ein interaktiver Agatha-Christie-Krimi mit umgekehrtem Vorzeichen. Denn hier bist du selbst der Mörder!
Die britischen Entwickler von Inkle gelten völlig zurecht als die womöglich talentiertesten Geschichtenerzähler in der Videospiellandschaft. Vor nicht allzu langer Zeit geriet ich im Test zu ihrem gnadenlos kreativen Adventurespiel Heaven‘s Vault aus dem Schwärmen nicht heraus angesichts der einzigartigen Dieselpunk-Welt, den vielschichtigen Dialogen und vor allem der außergewöhnlichen Rätselmechanik.
Overboard! folgt jedoch eher ihrem vorherigen Spiel 80 Days, das ein paar Nummern kleiner, aber nicht weniger brillant konzipiert war. Die Visual Novel war lose an Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt angelehnt und erzählte in jedem Durchgang eine komplett andere Geschichte, je nachdem welche Reiseroute der Spieler um den Erdball einschlug. Die relativ kurze Spieldauer von lediglich einer Stunde konnte sich daher schnell mal eben vervielfachen, weil man das Spiel gerne drei, vier, fünf Mal oder noch öfter durchspielte, um immer wieder eine völlig neue Geschichte zu erleben.
Overboard treibt dieses Spielprinzip nun auf die Spitze. Auf den ersten Blick ähnelt es seinem Vorgänger im Geiste – und ist doch etwas vollkommen Neues, womöglich in dieser Form noch die Dagewesenes. Ihr schlüpft in die Rolle von Veronica Villensey, die soeben ihren Mann ermordet hat und nun ihre Spuren verwischen muss, bevor das Schiff in New York einläuft, um nicht überführt und verurteilt zu werden. 20 bis 30 Minuten in realer Spielzeit dauert das in etwa nur. Danach kommen die Besatzung und Passagiere wie in einem Hercule-Poirot-Krimi in der Lounge zusammen, erörtern den Fall, diskutieren die Beweise und machen ihre Zeugenaussagen. Und natürlich habt ihr so gut wie keine Chance. Ab ins Gefängnis – und in den nächsten Spieldurchlauf …
Das erste Roguelike-Adventure
Overboard! ist damit so etwas wie das womöglich erste Roguelike-Story-Adventure. In jedem Spieldurchlauf nutzt ihr eure zuvor gewonnenen Informationen und Erkenntnisse, vermeidet begangene Fehler und optimiert nach und nach eure Vorgehensweise.
Eine Passagierin sah den Ermordeten am Bullauge ihrer Kajüte vorbei ins Wasser fallen. Vielleicht lässt sie sich irgendwie davon überzeugen, dass es Selbstmord war? Eine alte Dame hat den Mord gehört – könnt ihr sie mit Schlaftabletten zum Schweigen bringen? Ein Passagier, der zu viel weiß, scheint ein Geheimnis mit sich zu tragen, dass ihn erpressbar machen könnte, und ein Zeuge hat offensichtlich ein Auge auf unsere fesche Erscheinung geworfen. Lässt er sich verführen und so gefügig machen? Wie verschleiern wir, dass wir unseren Ohrring am Tatort verloren haben, und können wir der Besatzung möglicherweise gar Glauben machen, unser Gatte sei noch am Leben?
Overboard erinnert optisch an eine Visual Novel, spielerisch aber eher an ein Abenteuerspielbuch (oder Choose Your Own Adventure Book). Ihr begebt euch über eine Übersichtskarte an die verschiedenen Ort des Schiffes – eure Kajüte, das Restaurant, an Deck etc. - wo sich je nach Uhrzeit unterschiedliche Personen antreffen lassen. Beim gemütlichen Frühstück mit der abgehalfterten Diva lassen sich im unverfänglichen Schnack brisante Informationen entlocken. Während der indische General in der Raucherlounge mit Kartenspielen beschäftigt ist, könnt ihr heimlich seine Kajüte durchsuchen (vorausgesetzt ihr konntet vorher vom Kapitän den Generalschlüssel stibitzen), und am Nachmittag lockert ein Gläschen Martini die Zunge des ein oder anderen Passagiers beim Flanieren auf dem Sonnendeck.
Jede auch noch so kleine Entscheidung wirkt sich auf den weiteren Verlauf aus. Gebt ihr beim Weckruf durch den Steward vor, euer Ehemann sei noch am Leben? Oder meldet ihr ihn gleich zu Beginn als vermisst, um den Verdacht von euch abzulenken? Macht ihr dem Bootsmann schöne Augen, um seine Loyalität zu gewinnen? Oder erpresst ihr ihn mit seinem dunklen Geheimnis? Erstickt ihr die Zeugin mit einem Kopfkissen, um ihre Aussage zu verhindern? Oder macht ihr euch dadurch erst recht verdächtig?
Mit jedem Durchgang lernt ihr mehr und mehr dazu, welche Entscheidung richtig und welche falsch war, erfahrt ihr Hinweise, die euch an anderer Stelle nützlich sein können. Wie es für Roguelikes typisch ist, droht der Ablauf mit der Zeit eintönig zu werden, weil sich Vieles wiederholt und auf Trial & Error fußt. Aber auch daran haben die Entwickler gedacht: So könnt ihr jede Szene ein Mal pro Durchgang wiederholen, wenn ihr einen Fehler begangen habt. Eine intelligente Vorspulfunktion lässt euch ganze Passagen im Schnelldurchlauf abwickeln, wenn ihr der Meinung seid, eure im vorherigen Durchlauf getroffenen Entscheidungen werden schon die richtigen gewesen sein. Vor allem aber werden erfolgreiche gelöste „Quests“ vom Spiel abgehakt und müssen nicht mehr jedes Mal aufs Neue von vorne begonnen werden, wenn ihr sie einmal perfekt absolviert habt.
Und wenn man schon glaubt, allmählich zu ahnen, wohin der Hase läuft, schlägt Overboard noch den ein oder anderen Haken, der hier selbstverständlich nur angedeutet werden soll. Denn einfach nur den Verdacht von sich selbst abzulenken, stellt lediglich die Pflicht im How to get away with Murder dar. Ihn auf jemand anderen zu richten bildet die Kür. Dabei auch noch den Betrag der Lebensversicherung einzukassieren und sich mit dem Liebhaber in ein Leben in Luxus abzusetzen, gilt schlussendlich als wahrhaftiges Kabinettstückchen der Ganoverei.
Overboard mag nicht im gleichen Maße ein erzählerisches Meisterwerk darstellen wie die vorherigen Spiele von Inkle - ob Sorcery, 80 Days und erst recht nicht das herausragende Heaven‘s Vault. Die ständigen Wiederholungen im Roguelike-Muster und das Trial & Error im Herausfinden der richtigen und falschen Entscheidungen stehen zwischenzeitlich immer mal wieder kurz davor, dass der flott vergnügliche Spielfluss dem Mühsal weicht.
Overboard ist einfach eine kleine, feine interaktive Geschichte mit einem extrem originellen Konzept, geschrieben mit messerscharfem Verstand und präsentiert in einem durch und durch lässigen Stil mit toller Jazz- und Swing-Musik, die allein schon mitreißt. Dass es neben dem PC vor allem auch auf Switch und Smartphones veröffentlicht wurde, spricht ebenfalls Bände für die Art und Weise, mit welcher Herangehensweise man sich ihm nähern sollte: Denn Overboard spielt man weniger wie ein typisches Videospiel, sondern erlebt es lieber wie eine spannende Sommerlektüre auf der Zugfahrt in den Urlaub, im Liegestuhl am Strand oder im gemütlichen Sessel zu Hause. Mit etwa 10 Euro steht es auch preislich auf einer Ebene mit einem Taschenbuch und ist jeden Cent davon wert.
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