Special - Die Anti-Grafik-These : Aussehen ist nicht alles
Hält er sich lange Zeit in dieser virtuellen Anderwelt auf, wird die ästhetische Ebene zumindest kurzzeitig zum Opfer eines Gewöhnungseffekts: Das Staunen nimmt ab, das anfänglichen „Wow!“ weicht dem Gefühl von Normalität. Gerade für extrem umfangreiche Spiele wird das schnell zum Problem: Ob der Spieler erneut in die virtuelle Gegenwelt abtaucht, das wird vor jedem Einschalten maßgeblich dadurch bestimmt, ob die visuellen Reize des Gezeigten zu diesem Zeitpunkt noch konkurrenzfähig sind. Bei Titeln mit 20 oder 30 Spielstunden kein Problem – bei 200 bis 300 Stunden dagegen schon.
Mit jedem Monat, der ins Land geht, steigt das Risiko, dass der Kunde den äußeren Reizen eines neuen Produkts erliegt und darüber den einstigen Liebling verstauben lässt. In der Natur ist das nicht viel anders: Ob bei der Auswahl des Wohnorts, des Partners oder des Berufs: Ständig schweift der Blick auf der Suche nach neuen Erfahrungen umher. Entschieden wird dabei innerhalb von Sekunden, meist aufgrund äußerer Reize oder wegen des Gruppenzwangs – der deshalb gerade bei Multiplayer-Titeln ähnlich mächtig ist wie der erste Grafik-Kick.
Darum versucht manch ein Entwickler, seine Produkte für einen möglichst langen Zeitraum attraktiv zu gestalten, indem sie bei ihrem Erscheinen die aktuellen PC-Konfigurationen erst mal überlasten: Als CD Projekt RED im Mai 2015 nach mehreren Verschiebungen endlich das dritte Witcher-Abenteuer bringt, da hat kaum jemand einen Spielerechner, der das Grafikmonster auf maximaler Detailstufe und Auflösung stemmen kann. Die Begründung des Studios: Witcher 3 soll auch in einigen Jahren noch „State of the Art“ sein.
Trotzdem stützt das M.D.A.-Modell auch die Grafikgegenthese: Wenn die beiden Bausteine „M“ und „D“ besonders virtuos ausgesteuert sind, dann können sie bis auf die äußerste Wahrnehmungsebene abstrahlen. Und dabei eine vielleicht nur mittelprächtige Grafikkulisse entscheidend unterstützen. Für Titel wie Fallout 4 ist das ein ausgesprochenes Glück: Sie ködern den Spieler vor allem durch innere Werte. Immerhin: Sie sehen gut genug aus, um ihn zumindest nicht abzuschrecken.
Verliebt in schöne Grafik
Wie wichtig die visuelle Wahrnehmung des Gespielten ist, das verdeutlichen zahlreiche Fans selbst, indem sie Abenteuer wie Witcher 3 oder Fallout 4 mit Grafikmods versorgen: Höher aufgelöste Texturen, schönere Beleuchtung – manch eine Witcher-3-Mod wirbt gar damit, das Rollenspiel würde durch die Installation so aussehen wie auf den ersten E3-Screenshots vor dem „grafischen Downgrade“. Manch einer bringt selbst das auf den aktuellen Grafikstand, was er in seiner Jugend gespielt hat: Mario, Metroid-Heldin Samus Aran, Solid Snake – dank findiger Fans und kostenloser Unreal Engine 4 durchstreifen die alten Helden täuschend echt ausgeleuchtete und hochauflösend gerenderte Welten. Allesamt Fan-made.
Manch einer mag sich bei so viel Grafikversessenheit verwundert am Kopf kratzen oder derartige Projekte als Zeitverschwendung und pure Oberflächlichkeit abtun. Aber ich vermute dahinter eine andere Motivation: Indem Fans die Blockbuster von anno dazumal auf diese Weise neu interpretieren, verleihen sie ihrem Bedürfnis Ausdruck, das Aha-Erlebnis von früher in das Jetzt zu übertragen. Sie stellen das Spiel mit heutigen Mitteln so dar, wie sie es damals empfunden haben. Die Empfindung hat sich nicht geändert – wohl aber die Sehgewohnheit. Darum versuchen sie jetzt, beides wieder miteinander in Einklang zu bringen.
Die Änderung der Sehgewohnheit sorgt also vor allem dafür, dass der Grafiklack mit der Zeit unweigerlich abblättert. Und in dem Bestreben, die Faszination des ersten Sehens immer wieder zu erleben, treiben wir die Technologie hinter den grafischen Kulissen immer weiter. Weil wir gar nicht anders können. Denn der Mensch – der will sich immer wieder neu verlieben. Manchmal sogar in die alte Liebe, aber mit neuer Schminke.
Darum habe ich auch absolut kein schlechtes Gewissen, wenn ich mich weiterhin unter meiner „Unreal-Engine-4“-gerenderten Palme aale, dabei aus einem täuschend echt illuminierten Cocktail-Glas schlürfe und ein paar schimmernden Partikeln genussvoll dabei zusehe, wie sie sanft durch die Lichtstrahlen trudeln, die durch das Blätterdach über mir fallen. Denn schöne Grafik – die ist vielleicht nicht alles, aber auf jeden Fall eine verdammt geile Sache.
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