Test - Gothic : Switch-Test: Ein deutscher Rollenspielmeilenstein mit Altersgebrechen
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Bis heute werden deutsche Rollenspiel-Fans nicht müde, die Genialität von Gothic zu betonen. Piranha Bytes begeisterte anno 2001 mit einer realistischen Open World, deren Bewohner sich durch ihren derben „Ruhrpott-Charme“ ins Gedächtnis der Spieler brannten. Viele Unarten moderner Genre-Vertreter umschiffte das kleine Team mit seinem Debüt bereits vor über 20 Jahren und schwang sich zu einer grauen Eminenz der hiesigen Entwicklerlandschaft auf. Seit dem Release wuchs aber eine gänzlich neue Generation von Gamern heran, deren Ansprüche sich gewandelt haben. Der Zahn der Zeit nagte an Gothic wie eine Molerat am namenlosen Helden. Wie also schlägt sich der Switch-Port im Jahr 2023?
Betrachte ich die Historie der Videospiele, sticht ein Umstand immer wieder deutlich ins Auge: Titel, die ihrerzeit als Meilensteine, revolutionäre und perfekte Werke gefeuert wurden, leiden oftmals nur wenige Jahre später unter einer gänzlich anderen Wahrnehmung. Far Cry 3 führte mit Vaas einen Bösewicht ein, den man zu hassen liebte. Die bis zum Platzen mit Inhalten gefüllte offene Welt löste Begeisterungsstürme aus, heute verteufeln viele Spieler den Shooter für die Einführung der berüchtigten „Ubisoft-Formel“. GoldenEye 007 gehörte zur Grundausstattung jedes N64-Besitzers und war Pflicht für ausgiebige Multiplayer-Runden. Abgesehen von der Grafik sorgte in modernen Zeiten die Steuerung mit dem Nintendo-Dreizack für Schimpftiraden und lässt sich nur mit rosaroten Nostalgiehandschuhen ertragen.
Ein ganz bestimmtes Rollenspiel jedoch scheint sich diesem Trend zu widersetzen wie das gallische Dorf den Römern: Gothic. Der deutsche Klassiker erfreut sich bis heute einer Fanbase, die durch Mods und glühende, ungefragt vorgetragene Lobesreden zum Fortbestand des Piranha-Bytes-Debüts sorgen. Entsprechend findet sicherlich auch die Portierung auf die Nintendo Switch wieder haufenweise Abnehmer. Doch war Gothic tatsächlich der Meilenstein, den viele Fans bis heute im Kopf haben? Und wo platziert sich das oftmals grobschlächtige RPG in der Genrelandschaft 2023?
Böse Mine zu gutem Spiel
Selbst für damalige Verhältnisse fiel die Spielwelt von Gothic nicht gerade riesig aus. Dennoch schaffte es Khorinis, die Spieler förmlich einzusaugen. Das erklärte Ziel von Piranha Bytes lautete damals, eine Art eigenes Ultima Underworld zu erschaffen - und das gelang auch. Eure Handlungen wirken sich spürbar auf eure Umgebung aus und Charaktere reagieren entsprechend auf euch. Ungehobelte Rüppel spüren schneller den kalten Stahl von Soldatenklingen als sanfte Schmeichler. Nehmen wir den armen Wurm Graham als Beispiel: Der Kartenzeichner verkauft euch seine Map der Alten Mine nur allzu gerne für eine Portion Erz, droht ihm aber mit einem vollen Pfund aufs Maul, rückt er sich bereitwillig auch gratis raus.
Die Simulation einer realistisch anmutenden Kolonie endet hier aber noch nicht. Wie das große Vorbild auch folgt Gothic einem Tag-Nacht-Wechsel, der die Aktivitäten der Bewohner und das Verhalten von Fauna und Flora lenkt. Wo ihr tagsüber blutrünstige Scavenger fürchten müsst, ruhen die Tierchen nach Sonnenuntergang friedlich, sodass ihr ohne weiteres vorbeischleicht. Kräht der Hahn zum Morgenappell, marschieren die Soldaten, Minenarbeiter und Buddler treten verschlafen aus ihren Hütten, waschen sich im Fluss und gehen allmählich ihren Tagesgeschäften nach. Natürlich fehlt bei Begegnung der freundliche Gruß an euch nicht.
Nicht minder zur Glaubwürdigkeit von Gothics Welt tragen die kauzigen Bewohner und die derben Dialoge bei. Ihr befindet euch in einer Gefangenenkolonie, deren Insassen sich in den letzten Jahren eine eigene Gemeinschaft mit besonderen Regeln und Hierarchien aufbauten. Freilich fällt der Umgangston hier deutlich ruppiger als in heldenhaften Genrekollegen aus. Will sich euch der berüchtigte NPC Mud anschließen, dürft ihr ihm mit einem freundlichen „Verpiss dich!“ nahelegen, dass ihr da so gar keinen Bock drauf habt. Wollt ihr einen herumstehenden Typen damit beleidigen, dass seine Mutter Beischlaf mit Ziegen praktiziert, antwortet er ganz pragmatisch „Vermutlich tut sie das wirklich“.
Doch nicht nur die ruppige Atmosphäre lässt die Welt von Gothic noch heute hervorstechen, auch ein ganz besonderer Kniff, der später zum Markenzeichen von Open-World-Spielen wurde, hob das Ruhrpott-RPG bereits damals von der Masse ab: Ihr könnt wirklich jeden Ort erreichen, den ihr in der Ferne erblickt. Wer bereit für ausgedehnte Spaziergänge ist, wird mit einzigartigen Abenteuern und Geschichten belohnt. Grenzen setzt euch Piranha Bytes nicht vor, allerdings müsst ihr stets damit rechnen, auf zu starke Gegner oder Monster zu treffen, die euch schneller zum Schläfer prügeln, als ihr "Du madenzerfressener Moderteppich" brüllen könnt.
Unter diesen Gesichtspunkten mag man bedauern, dass Gothic international nur wenig Beachtung erfuhr und daher weniger Einfluss auf die Spielegeschichte nahm, als es ihm gegönnt sei. Dennoch finden sich etliche Ideen von damals noch heute in modernen Titeln – oder werden jetzt erst als „Innovationen“ neu entdeckt. Je mehr der namenlose Held etwa auf Monster und Gegner einprügelt, desto besser wird sein Umgang mit Waffen. Medien und Spieler loben nach wie vor die Spiele der Elder Scrolls für diesen Ansatz in den Himmel, obwohl Morrowind dieses Feature erst drei Jahre nach Gothic einführte und viele es gar erst Skyrim zuschreiben.
Diese Stärken heben Gothic noch heute von vielen anderen Rollenspiele ab. Wo sich die Unart der Ubisoft-Formel wie ein Lauffeuer ausbreitet und man die Map vor lauter Symbolen kaum mehr sieht, lässt euch Piranha Bytes jederzeit größtmöglich freie Hand. Seid der namenlose Held, der ihr sein wollt, und entschuldigt euch bloß nicht dafür. Abgesehen von vielleicht From Software (Elden Ring) und Nintendo (Zelda: Breath of the Wild) trauten sich kaum zeitgenössische Studios, den Spielern derart immense Freiheiten zu. Die Angst davor, potenzielle Fans durch fehlende Führung zu verprellen, sitzt zu tief. Selbst 20 Jahre später schafft es die Welt von Gothic noch, einen fast schon magischen Sog zu entwickeln – vorausgesetzt ihr seid bereit, ihr die mittlerweile stark altbackene Technik hinwegzusehen.
Meine Augen, beim Schläfer!
Meiner Erinnerung nach war Gothic selbst für damalige Verhältnisse kein wirklich schönes Spiel – was aber auch daran lag, dass mein PC seinerzeit schlicht nicht über genügend Pferdestärken verfügte, um Khorinis angemessen auf den Bildschirm zu zaubern. Dabei stelle ich jedoch keinen Einzelfall dar, denn die Hardwareanforderungen fielen durchaus deftig aus. Entsprechend kamen nur wenige Helden wirklich in den vollen Genuss der Atmosphäre.
Hierbei lässt die Switch-Portierung freilich ordentlich Federn. Denn abgesehen von Anpassungen beim Bildformat und der Auflösung erwarten euch keinerlei optische Verbesserungen. Entweder habt ihr also ein ausgeprägtes Faible für Retrospiele oder ihr zwingt euch, über die Optik hinwegzusehen und euch voll auf die durch Dialoge und Welt hervorgerufene Stimmung einzulassen. Sonst bereitet Gothic im Jahr 2023 nicht viel Freude.
Ähnliches trifft auf die Controller-Steuerung zu. Bei Release war die Panzer-Fortbewegung des namenlosen Helden schon nicht sonderlich beliebt, daran ändert auch die Switchzellenkur nur wenig. Zum Verständnis muss ich aber zunächst einen kleinen Exkurs über die Entwicklungsgeschichte von Gothic wagen. Ursprünglich plante Pirana Bytes nämlich, Movement nur via Maus und Tastatur zu erlauben. Die Implementation der Maus erfolgte erst wenige Wochen vor Release, was in einer Kombination aus ungenauen Eingaben, seltsamen Tastenkombinationen und kompliziertem Inventar-Management resultierte. Zumindest teilweise behoben die Verantwortlichen diese Probleme durch Patches, Fan-Mods regelten den Rest.
Auf der Nintendo Switch hingegen bieten sich euch Schultertasten-Shortcuts zu Schnellladen und -speichern, eine vollständig auf Gamepads angepasste Steuerung und dasselbe klobige Gefühl bei der Fortbewegung. Ich gehe aber so weit und sage, dass der Wegfall der berüchtigten Aktions-Taste, die im PC-Original als Universalwaffe fungiert, ein Gottesgeschenk ist und das Spielgefühl um ein Vielfaches verbessert. Was nicht heißen soll, dass ihr ein ansatzweise zeitgemäßes Erlebnis erwarten braucht. Das macht alleine die fehlende Autosave-Funktion schon klar.
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Speziell in den Kämpfen bleibt es oftmals purer Zufall, ob ihr Gegner wirklich trefft oder ins Leere schwingt. Klettern oder das Aufheben von Items fällt erwartungsgemäß ebenfalls nicht sonderlich intuitiv aus, ohne dabei aber zum Gamebreaker zu werden. Die Steam-Version lässt sich übrigens nicht mit Controller spielen, eine ähnliche Behandlung erfuhr sie also offensichtlich nicht.
Nicht meckern will ich hingegen über die Anpassungen der Oberfläche, denn selbst im Handheldmodus erkenne ich jeden Text und jede Anzeige. Dank der haufenweise verbauten Bugfixes dürfte Gothic auf der Nintendo Switch zudem die rundeste Version sein, solltet ihr keine Lust auf ausufernde Mod-Sessions hegen.
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