Test - 11-11 Memories Retold : Emotionaler Gegenentwurf zum Krieg à la Call of Duty
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Videospiele haben naturgemäß ein Problem mit dem Thema Krieg. Während das Kino sich ihm seit den 70er Jahren fast ausschließlich aus der Haltung des Anti-Kriegsfilms heraus nähert, geraten Spiele fast zwangsweise in den Zwiespalt, das menschliche Leid auszuklammern und es unter dem Lärm von Kampfgetöse und heroischen Parolen verstummen zu lassen. 11-11 Memories Retold ist einer der wenigen Versuche, die persönlichen Schicksale hinter den Schlachten in Spieleform aufzuarbeiten.
Für sein Debütspiel 11-11 Memories Retold tat sich der französische Entwickler Digixart mit dem britischen Filmstudio Aardman zusammen, das unter anderem für Shaun, das Schaf, und Wallace & Gromit bekannt ist und für das 3D-Adventure einen ganz besonderen visuellen Stil beitrug. 11-11 Memories Retold erzählt die Geschichte des deutschen Ingenieurs Kurt und des kanadischen Fotografen Harry, die ihr im ständigen Wechsel spielt und deren Wege sich im Verlaufe des Ersten Weltkriegs mehrfach kreuzen. Ihre Erlebnisse stehen stellvertretend für die persönlichen Schicksale Tausender Soldaten, die in den Heldengeschichten eines Call of Duty oder dem nüchternen Aufzählen von Daten und Fakten historischer TV-Dokumentationen zumeist verloren gehen.
Krieg. Krieg bleibt immer gleich
Die beiden Männer ziehen aus Gründen in den Krieg, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Harry möchte Heldentaten vollbringen, um damit der vergeblich Angebeteten zu Hause zu imponieren. Kurt hingegen ist der Krieg egal. Er will lediglich seinen Sohn finden, der an der Front als vermisst gilt. Gesprochen werden die beiden von den Schauspielern Elijah Wood und Sebastian Koch (Das Leben der Anderen), die ihren Charakteren wie in Inglourious Basterds jeweils in ihrer Muttersprache die Stimme leihen, was ihnen eine zusätzliche Authentizität verleiht, ganz besonders in Szenen, in denen die beiden einen Weg finden müssen, einander trotz der Sprachbarriere zu verstehen.
11-11 Memories Retold nimmt sich zu Beginn viel Zeit für all das Alltägliche, das vorrangig an der Action interessierte Schlachtenepen wie Call of Duty und Battlefield in der Regel aussparen: das zermürbende Warten in den Schützengräben, das Zeittotschlagen mit Kartenspielen und Besäufnissen, die die unerträgliche Angst vor dem, was unausweichlich kommen wird, betäuben sollen.
Während der Schlacht von Vimy werden sowohl Harry als auch Kurt unfreiwillig in einem Bergwerksstollen verschüttet und sitzen dort für Tage und Wochen eingeschlossen fest. Aus der anfänglichen Zweckgemeinschaft wider Willen wird schließlich eine Freundschaft, die die Sinnlosigkeit des Krieges auf zutiefst menschliche Weise vor Augen hält – erst recht, als sie Jahre nach ihrer Rettung einander als Feinde auf dem Schlachtfeld wieder begegnen ...
Die Geschichte von den anfänglichen Feinden, aus denen in den Wirren des Krieges Freunde werden, wurde schon des Öfteren erzählt und hat große Filmkunst wie Die große Illusion von Jean Renoir hervorgebracht und auch weniger große wie Enemy Mine von Wolfgang Petersen. Ersterer könnte durchaus eine der maßgeblichen Inspirationen für 11-11 gewesen sein, denn für seine außergewöhnliche Optik bedient sich Aardman eines Stils, der dem französischen Impressionismus nachempfunden ist, in dem Jean Renoirs Vater, der Maler Auguste Renoir, eine prägende Persönlichkeit war.
Kunst als Spiel
Der Stil von 11-11 Memories Retold sieht aus wie ein flirrend animiertes Gemälde des Impressionismus, zu dessen bekanntesten Vertretern etwa Claude Monet oder Paul Cézanne gehören. Wem die nichts sagen, der stelle sich einfach vor, Vincent van Gogh habe jeden Frame der Grafik in Echtzeit übermalt: mit grobem, schwungvollem Pinselstrich und leuchtenden, eindeutigen Farben.
Digixart und Aardman möchten damit zum Ausdruck bringen, dass Erinnerungen stets verschwommen sind und von der persönlichen Wahrnehmung und Bewertung des Geschehens nicht nur überlagert, sondern durch diese erst geformt werden. 11-11 trägt nicht von ungefähr den Untertitel „Memories Retold“. Das Spiel will nicht realistisch darstellen, was passiert ist, sondern veranschaulichen, wie die beiden Soldaten ihre Erlebnisse in der erzählenden Rückschau empfinden. Was wir sehen, ist weniger ein Ausschnitt der Wirklichkeit, sondern ein individueller Eindruck von ihr, nachdem sie den Filter der Wahrnehmung, der Emotionen, des Vergessens und Verklärens bereits durchlaufen hat.
Einen ähnlichen Verfremdungseffekt zeichnete etwa auch die Filme A Scanner Darkly oder Waltz with Bashir aus, in denen das gefilmte Material von Zeichentrickkünstlern übermalt wurde. Im Gegensatz zu diesen ist er im Falle von 11-11 aber vor allem auch eine äußerst kreative Ausrede, mit der ein geringes Produktionsbudget kaschiert werden soll.
Krieg ist kein Abenteuerspiel
Spielerisch gießt 11-11 seine Geschichte in die Passform eines klassischen Adventures, keines jedoch, das euch Kopfnüsse in den Weg legt, an denen ihr euch die Zähne ausbeißt. Wie zuletzt etwa auch in State of Mind von Daedalic ist stets offensichtlich, was als Nächstes zu tun ist, und der Auslöser für den nächsten Storyschnipsel nur ein paar Schritte und eine simple Aktion entfernt. 11-11 ordnet sein Gameplay dadurch einem flüssigen Erzählfluss unter, was keineswegs als Makel zu verstehen ist. Memories Retold ist weniger ein typisches Spiel, als vielmehr eine interaktive Story, der traditionelle Rätsel lediglich im Weg stehen würden und der es vorrangig um die Erfahrung seiner Geschichte geht.
Digixart gelingt das immer wieder in eindrücklichen Szenen, wie man sie in dieser Form noch nie zuvor in einem Videospiel gesehen hat: die schlammigen Schützengräben etwa, in denen die ständige Angst vor dem grausamen Giftgas-Tod förmlich zu spüren ist. Fast schon unwirklich wirken dazu im krassen Gegensatz die Szenen während des Fronturlaubs in Paris, mit ihren idyllischen Nachmittagen im Café und ausgelassenen Abenden im Nachtclub.
Es ist kaum möglich sich der aufwühlenden Kraft dieser Bilder zu verschließen, wie das des Soldatenfriedhofs, der sich mit seinen Kreuzen und Gräbern bis zum Horizont zu erstrecken scheint und auf surreale Weise in einem leuchtenden Meer aus Millionen von Mohnblumen erblüht, weil die darunter liegenden Leichen sie als menschlicher Dünger in makabrer Schönheit wild sprießen lassen.
Die Moral schwimmt sicher auch in Milch
11-11 Memories Retold gelingt damit das seltene Kunststück einer interaktiven Vermittlung der Schrecken, aber auch des erschreckend banalen Alltags des Krieges. Dass es nicht zum Meisterwerk reicht, liegt an seiner inkonsequenten Herangehensweise an sein Thema. Seinem Ansinnen eines authentischen Abbilds des Ersten Weltkriegs verschließt sich das Spiel durch seine letztlich recht märchenhaft romantisierende Geschichte.
Die teils geradezu magischen Wendungen sorgen dafür, dass 11-11 seinem eigentlichen Ziel letztlich genau entgegen steuert: Statt die schmutzige Realität des Krieges und seine tragischen persönlichen Schicksale abzubilden, liefert es ein sentimental verklärtes Zerrbild, das wirkt, als habe Walt Disney einen Zeichentrickfilm über den Ersten Weltkrieg gedreht. Ein bisschen Herz, ein bisschen Schmerz – wie in einem Schlager oder auf der Kirmes ist für jeden was dabei. Die abschließende Moral ist so leicht, sie schwimmt sicher auch in Milch.
Auch die Motivation der Charaktere wirkt in diesem Zusammenhang regelmäßig fast schon fahrlässig naiv, weil sie eben keiner psychologischen, sondern einer Videospiellogik folgt: Im Gefangenenlager denkt Harry am Vorabend seiner Deportation ausschließlich daran, seinen Fotoapparat wiederzuerlangen. Und Kurt hat inmitten des größten Stahlgewitters einer Offensive der Franzosen nichts anderes im Sinn, als seine entlaufene Katze wieder einzufangen.
Apropos Katze: Die eingestreuten kurzen Passagen, in denen man die Kontrolle über die Haustiere der beiden Hauptcharaktere übernimmt – eine Katze und eine Taube –, untermauern diesen inkonsequenten Gesamteindruck. Wo 11-11 einen authentischen Zugang zu historischen Ereignissen hätte legen können, verklärt es diese zu einer rührseligen Fabel – süße Tiere inklusive. Da sind die patriotischen Heldengesänge eines Call of Duty fast schon ehrlicher.
Der visuelle Stil des Spiels macht das zwiespältige Gesamtbild schließlich komplett. In etlichen Momenten ist der Krieg in derartig schönen Bildern gezeichnet, dass sie seine Schrecken schlussendlich stärker bagatellisieren, als es selbst ein Ego-Shooter jemals könnte. Vermutlich ist die gewählte Ästhetik bereits von Grund auf falsch gewählt, schließlich bestanden die Motive des Impressionismus aus gutem Grund zumeist aus eher idyllischen Szenen wie einem Picknick im Grünen, verträumten Spaziergängen oder malerischen Sonnenuntergängen. In dieser verklärenden Darstellung jedenfalls instrumentalisiert 11-11 Memories Retold sein Geschehen lediglich zu plattem, manipulativem Kitsch.
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