Test - Minute of Islands : Albtraumhaft schönes Endzeit-Märchen
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Vom ersten Moment an macht Minute of Islands eines deutlich: Das hier ist ein höchst ungewöhnliches Spiel. In seinem einzigartigen Grafikstil zwischen Kinderbuch und bizarr morbider Albtraum-Vision, der melancholischen Stimmung grenzenloser Einsamkeit als letzter Überlebender in einer postapokalyptischen Welt und die nur schwer greifbare Geschichte zwischen kindlich verträumtem Märchen und verstörendem Psycho-Horror.
Minute of Islands stammt von den deutschen Entwicklern bei Studio Fizbin, die bereits mit den beiden Adventuren der Inner-World-Serie ihr Talent für feingeistige Geschichten, herzergreifende Figuren und einen verzückend märchenhaften Stil unter Beweis stellten. Ihr neues Spiel Minute of Islands weist zwar optisch und atmosphärisch gewisse Ähnlichkeiten dazu auf, fällt aber ansonsten vollkommen anders aus. Kein Point‘n‘Click mit klassischen Inventarrätseln mehr. Stattdessen eine ästhetisch-emotionale Erfahrung zwischen Puzzle-Platformer und Walking-Simulator.
Mo better Blues
Die Welt ist durch eine giftige Pilzspore unbewohnbar geworden. Nur die junge Mo hat tief unter der Erdoberfläche überlebt, wo sie von den vier Riesen des Landes auserwählt wurde, über die Welt zu wachen und die Maschinen zu warten, die riesige Ventilatoren antreiben und die Sporen in der kümmerlichen Hoffnung vertreiben, eines fernen Tages die Rückkehr an die Oberfläche möglich zu machen. Doch dann geschieht ein Unglück. Die Ventilatoren fallen aus, die Sporen erobern sich den Planeten zurück und versetzen die Riesen in einen Schlaf, der die Welt erneut an den Rand des Untergangs bringt.
Und so muss Mo die Sicherheit ihres unterirdischen Bunkers verlassen und die verschiedenen Inseln des Archipels bereisen, um die Maschinen wieder in Gang zu bringen, die Riesen zu wecken und sich dabei ihren eigenen Ängsten und Dämonen zu stellen. Denn auf der metaphorischen Ebene ist Minute of Islands mehr als bloß die märchenhafte Odyssee einer kindlichen Heldin und ihrem verzweifelten Versuch, die Welt zu retten. Vielmehr bildet es eine allegorische Reise in die Gedanken- und Gefühlswelt eines psychisch labilen Menschen, seine traumatischen Erinnerungen und den inneren Kampf, den er mit sich und seiner Umwelt auszutragen gezwungen ist.
Unter diesem Gesichtspunkt stehen die verschiedenen Inseln, die Mo auf ihrem Abenteuer besucht, für unterschiedliche Stationen ihrer schwierigen Kindheit, den vergeblichen Bemühungen im Umgang mit anderen Menschen und den Erlebnissen, die ihr die Schwermut aufbürdeten, von der ihr Alltag heute geprägt ist: die glücklichen Kindheitstage auf dem Rummelplatz ihres Onkels, die heute nur noch verschwommene Erinnerung sind, so morsch und brüchig wie das Holz der verwahrlosten Achterbahn; das zerrüttete Verhältnis zu ihrer Schwester, die Zeit ihres Lebens versuchte, Mo eine Stütze zu sein, was jedoch zum Bruch zwischen den beiden führte, sich die Geschwister durch die ständigen Bevormundungen einander entfremdeten und schließlich zerstritten; die ambivalente Liebe zur Großmutter, die mit ihrer herrischen Art Mos Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls verhinderte und sie dadurch in die emotionale Isolation trieb.
Glücklicherweise trägt Minute of Island mit seiner ernsten Thematik niemals dick auf, bleibt in seiner Symbolik angenehm wage, formuliert seine Metaphern nicht so platt eindeutig wie das thematisch verwandte Sea of Solitude, das interessanterweise ebenfalls von einem Berliner Entwicklerstudio stammt, oder so naiv rührselig wie kürzlich erst Lost Words: Beyond the Page, das auf sehr ähnliche Weise in Form eines Puzzle-Platformers von einem jungen Mädchen in einer emotionalen Lebenskrise erzählte. Stattdessen belässt es Vieles in der Andeutung, lädt vielmehr dazu ein, sich das Geschehen im Lichte der eigenen Erfahrungen zu erschließen und sich selbst einen Reim darauf zu machen – oder es bleiben zu lassen, wenn man mehr an der märchenhaften Fantasygeschichte als an ihrer Deutung interessiert ist.
Wäre Minute of Islands nicht schon jetzt erschienen, sondern erst in ein oder zwei Jahren, ich würde sein Geschehen vermutlich gar als Parabel über den Versuch eines Kindes lesen, seine Erfahrungen während des Lockdowns in der Corona-Pandemie zu verarbeiten: die Vereinsamung und Entfremdung während der Kontaktbeschränkungen, die zunehmenden Spannungen im stetig komplizierter werdenden Umgang mit den Menschen im direkten Umfeld, die regelmäßigen Anfälle von Hoffnungslosigkeit, die entmenschlichte Leere der Außenwelt jenseits der trügerischen Sicherheit der Quarantäne, die Omnipräsenz tödlicher Keime in der Luft, gegen die nur das Tragen von Atemmasken schützt, derer sich die Menschen zunehmend trotzig verweigern, allen voran die kindlich starrsinnige Mo.
Grafik: ein Triumph des Stils
Abseits seiner Thematik ist Minute of Islands aber vor allem ein Triumph seines Stils, in dem auf außergewöhnliche Weise einander gegensätzlich scheinende Kunstrichtungen miteinander verschmelzen und dadurch in geradezu verstörender Eindringlichkeit die schizophrene Gefühlslage der Geschichte und ihrer Protagonistin illustrieren. Man sollte sich jedenfalls nicht vom kindlichen Bilderbuch-Charme des ersten Eindrucks täuschen lassen. Dieser bildet lediglich die trügerische Fassade einer vermeintlichen, aber längst vom mörderischen Schrecken verzehrten Unschuld.
Zwischen die Ritzen von Niedlichkeit und Verträumtheit hat sich in Minute of Islands bereits der blanke Horror von Depression und Paranoia eingenistet, wie unschwer auf den Screenshots auf dieser Seite zu erkennen ist. Immer wieder wirkt Minute of Island so, als hätten seine Grafiker das Plattencover eines 80er-Jahre-Heavy-Metal-Albums, von Iron Maiden oder Megadeth, im Stile eines Ausmalbuchs für Kinder nachempfunden: ins Leere starrende Totenköpfe mit grotesk langen Fangzähnen, Höhlen aus Fleisch und Knochen, in denen monströse Adern das Blut durch die Eingeweide der Erde pumpen, oder ein verstörender Wal-Friedhof, in dem sich die verstümmelten und verwesenden Kadaver zu einem obszönen Berg entstellter Leichen auftürmen.
Wie die Grafikkünstler von Studio Fizbin die Vielschichtigkeit ihrer Geschichte allein mit visuellen Mitteln subtil zum Ausdruck bringen, stellt nichts weniger als eine Meisterleistung dar. Die handgemalten 2D-Zeichnungen fallen extrem reduziert aus, wie in einem Malbuch in eindeutigen Umrissen und einfarbig ausgefüllten Flächen, erhalten aber durch kleine akzentuierende Striche komplexe Konturen und angedeutete Plastizität – eine Technik, wie sie typischerweise etwa auch in den Animes von Hayao Miyazaki oder den „Tim und Struppi“-Comics angewandt wird.
Andererseits strotzt es trotz seines Minimalismus immer wieder vor geradezu exzessiver visueller Opulenz. Wie ein Wimmelbildbuch fordert das Spiel regelmäßig zum Innehalten und Betrachten der vor Details übersprudelnden Szenerie auf. Minute of Islands erzählt dergestalt seine Geschichte weniger in Dialogen und Ereignissen, sondern vielmehr in den vielen nebensächlich scheinenden Kleinigkeiten, die nicht sprechen, aber so viel mehr sagen: im Haus des Onkels, der sich trotzig der Gefahr durch die Seuche verweigert und sich mit dem pfeifenden Teekessel auf dem Herd an die Einbildung einer Normalität klammert, die es schon längst nicht mehr gibt. Oder das heruntergekommene Heim des Leuchtturmwärters, das in seiner schäbigen Inneneinrichtung die ganze Lebensgeschichte eines Menschen zusammenfasst, der sich nach einem Schicksalsschlag selbst aufgegeben hat und nach und nach zum Trinker wurde.
Wir wander‘n von einem Ort zum andern
Minute of Islands bildet in diesem Sinne in erster Linie eine kontemplative und eher symbolisch greifbare Erfahrung in der Tradition von Journey oder Gris. Denn spielerisch bleibt es über weite Strecken regelrecht trivial. Die meiste Zeit der etwa 5 Stunden Spielzeit erkundet ihr die verschiedenen Inseln, um dort die Ventilatoren wieder in Gang zu setzen, saugt die melancholische Atmosphäre in euch auf und erhaltet in Mos innerem Monolog und den Gesprächen mit ihren Familienangehörigen wehmütige Einblicke in eine Zeit, als die Welt noch heil erschien und allmählich in die Brüche ging.
Die gelegentlichen Rätsel fallen eher in die Schublade: Auflockerung vom puren Wander-Einerlei. Sonderlich fordernd sind sie nie. Meist erschöpfen sie sich darin, eine Kiste an ihre vorgesehene Stelle zu schieben oder geisterhaft schwebende Erinnerungsschnipsel in der richtigen Reihenfolge einzusammeln. In der Regel aber genügt eine simple Interaktion mit einem Schalter oder einer Person, damit die Handlung fortschreitet.
Minute of Islands steht darum dem mitunter verrufenen Genre der Walking-Simulatoren deutlich näher als dem des Puzzle-Platformers. Ob sich beim Spielen ein Genuss beim Spieler einstellt, hängt daher hochgradig davon ab, ob sich dieser von seinem Stil, der Stimmung und Ästhetik einfangen und begeistern lässt, ob er einen Zugang zu seiner psychologischen Tiefe findet und vor allem die Bereitschaft entwickelt, sich emotional davon mitreißen zu lassen. Wem das nicht glücken mag, den könnte das Spiel weitgehend kalt lassen.
Zumal es mit seiner zaghaften und uneindeutigen Art nicht mit derselben Direktheit und im selben Maße emotional berührt, wie es vergleichbaren Spielen gelingt, es mit seiner bewusst einfach gehaltenen Geschichte weniger mitreißt und diese potenziellen Defizite spielerisch nicht auffängt. Oxenfree etwa zog beim sehr ähnlichen Wandern über eine 2D-Insel durch seine redselige Art in einen erzählerischen Sog, den Minute of Islands mit seinen meist recht banalen Unterhaltungen nicht erzeugt. Hellblade: Senua‘s Sacrifice – um mal ein scheinbar völlig abwegiges Beispiel zu nennen – gelang bei nahezu gleicher Thematik und ähnlich metaphorisch-symbolischer Erzählweise eine deutlich engere psychologische Verschmelzung mit seiner Heldin.
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Und dann steht natürlich noch der (zugegeben etwas unfaire) Vergleich mit dem genialen Indie-Meisterwerk Spiritfarer aus, in dem ebenfalls eine junge Heldin die Inseln einer gezeichneten 2D-Platformer-Spielwelt bereist, sich mit existenziellen Themen wie der Tröstlichkeit eines würdevollen Sterbens auseinandersetzt, dabei Momente großer Emotionalität erzeugt und dennoch diese in ein perfekt funktionierendes spielerisches Gesamtkonzept einbettet.
Zu einem Meisterwerk von ähnlichem Format hat es bei Minute of Islands nicht gereicht. Dafür bleibt die Geschichte letztlich doch zu oberflächlich und überlässt es zu sehr der Verantwortung des Spielers, ob er den Willen aufbringt, sich für seine Thematik zu öffnen und ihr aus der eigenen Erfahrung heraus eine Tiefe zu verleihen, die manchem verschlossen bleiben wird, der damit schlicht nichts anzufangen weiß.
Minute of Islands ging als Idee aus einem Game-Jam hervor, und genau wie der musikalische Jam einer Jazzband mutet das Endergebnis an: als verspieltes, kreatives Experiment talentierter Künstler, handwerklich virtuos und künstlerisch visionär. Doch eben auch nicht bis in die letzte Note ausgefeilt und durchdacht, mehr für den Augenblick als für die Ewigkeit bestimmt. Manch einer wird darüber nur verwirrt die Schultern zucken. Aber wer sich darauf einlässt, hört in jedem dissonanten Knacksen mehr Herz und Seele heraus als in dem mühelos konsumierbaren, makellosen Klang massentauglicher Chartproduktionen.
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