Test - Jagged Alliance: Rage! : Wirklich so schlecht, wie alle sagen?
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Wer hat an der Uhr gedreht? Ist das einst gefeierte Jagged Alliance 2 wirklich schon 20 Jahre alt? Und braucht es angesichts dessen unbedingt einen Nachfolger? Drei Fragen, die der jüngste Rundenstrategieknüller Jagged Alliance: Rage! nicht beantwortet, will er doch auf eigenen Beinen stehen oder zumindest den großen Zeh ins kalte Wasser halten, um den Bedarf abzuwägen. Taugt es trotzdem was?
Polygone statt Pixelsprites, aufgeräumte Benutzeroberfläche anstelle komplexer Kämpferprofile, Stealth statt Geballer. Jagged Alliance: Rage! hat auch auf den zweiten Blick nur noch wenig mit dem einstigen Strategiehit der Neunzigerjahre gemeinsam, den der eine oder andere PC-Spieler möglicherweise erst über das 2012er-Remake kennenlernte. Die Spielspaßformel der Marke wurde von vorne bis hinten neu zusammengesetzt.
Ja, Ähnlichkeiten bestehen weiterhin und THQ Nordic löscht nicht einfach die Geschichte des Vorgängers aus dem Äther. Ist spirituelle Fortsetzung der richtige Ausdruck? Oder Modernisierung? Hm, um einen waschechten Reboot geht es jedenfalls nicht, denn einige der alten Helden sind noch immer Teil der Geschichte. Ihnen werden 20 Jahre Alterungsprozess angedichtet, inklusive zugehöriger Macken, darunter Alkoholismus, Neigung zu Panikattacken, verletzliche Knie und Ähnliches. Vorbei ist damit die Zeit der wilden Ballerei. Heimlich, still und leise heißen die drei neuen Vorgesetzten.
Metal Gear auf dem Schachbrett
Zwei Helden dürft ihr euch bei Spielstart aussuchen, dann geht es auch schon los. Deren Vor- und Nachteile solltet ihr weise abwägen, denn ihr seid auf Gedeih und Verderb an sie gebunden. Hohe Sichtweite gegen schnelle Demoralisierung bei zivilen Opfern, hundertprozentig unbemerkte Meuchelkills gegen Bluterwunden, fantastische Sprungkraft gegen verkleinertes Inventar. Die Qual der Wahl bleibt euch überlassen, was beim Zusammensetzen eines Teams nicht unbedingt leichtfällt, wenn man die Schwere der Konsequenzen noch nicht aus Erfahrung abschätzen kann.
Ziemlich schnörkellos zeigen kleine Zwischensequenzen, wie die beiden Helden eurer Wahl von den Schergen eines Gangsterbosses gefangen genommen werden. In dessen Folterkammer im Zentrum einer tropischen Insel gelingt letztendlich die Flucht dank fremder Hilfe. Aber was heißt schon Flucht, mitten auf einer Insel im Nirgendwo. Ihr entkommt im besten Fall den Verfolgern, aber nicht der Insel, auf der ihr nach und nach über kleinere Subplots in den Handlungsrahmen eingesponnen werdet. Immer schön scheibchenweise mit einem überschaubaren Strategieschlachtfeld je Handlungsfetzen.
Auf diesen Schlachtfeldern, deren Oberflächen in kleine quadratische Felder unterteilt sind, bewegt ihr eure beiden Helden rundenweise. Eine Anzahl Aktionspunkte bestimmt dabei, zu welchen Handlungen ihr fähig seid. Wie weit könnt ihr rennen? Wie weit schleichen, ohne gehört zu werden? Genauer zielen? Schießen? Meucheln? Über den Boden robben? Leichen plündern? Alles abhängig von euren Aktionspunkten. Für Genrekenner keine große Überraschung.
THQ Nordic behält viele grundlegende Regeln des Genres wie auch der Reihe bei und wagt nur selten Experimente. Die Konzentration auf zwei Hauptdarsteller, die möglichst leise agieren, verlagert den Ton allerdings spürbar von strategischer Action zum fummeligen Ressourcenmanagement. Trinkwasser, Munition, Rüstung und mehr will gehortet und überlegt eingesetzt werden, was angesichts des begrenzten Platzes im Inventar nicht immer einfach ist. Eure Rucksäcke können zwar erweitert werden, aber der Platz ist von Vornherein so knapp bemessen, dass man selbst dann kaum Erleichterung wahrnimmt.
„Puh, das war jetzt dringend nötig“ ist eine ganz normale Reaktion, wenn man stetig einer Überzahl an Wachen gegenübersteht, die Geduld und Ressourcen manchmal unnötig strapaziert. Es ist jedoch nicht nur die schiere Überzahl, die am Geduldsfaden zupft. Die künstliche Intelligenz der Gegner schwankt bisweilen zwischen den Extremen. Mal ist sie übereifrig und übermenschlich aufmerksam, manchmal zu blöd, um bis drei zu zählen, daher gelingen Lockaktionen oder Versuche, versteckt zu bleiben, nicht immer in einem berechenbaren Muster.
Das Spielgeschehen weckt deswegen Erinnerungen an das allererste Metal Gear Solid auf der alten PlayStation, wo man gewissen Gegnern beinahe auf den Fuß treten musste, um sie in eine bestimmte Richtung zu locken. Wurde einer eurer Söldner entdeckt, ist es mit der Heimlichtuerei augenblicklich vorbei. Dann folgt ein bleihaltiger Dauerregen, dem man nur durch einen Abschluss des Szenarios entkommt.
Hasch mich, ich bin der Frühling
Das Ressourcenmanagement erfährt besonderes Gewicht durch die Aktionen der Übersichtskarte. Während ihr versucht, fortlaufend Stationen der Insel freizuschalten, sitzen euch Verfolger im Nacken. Die Handlanger des Kartellbosses suchen nach euch, können sich aber nicht überall auf einmal aufhalten.
Lasst ihr euch an einem verlassenen Checkpoint nieder, so dürft ihr eure Kräfte auffrischen, Waffen reparieren oder Wunden heilen, was besonders wichtig ist, wenn ein Charakter zum fortlaufenden Bluten neigt oder sich eine Infektion einfangen hat. Braucht ihr hingegen Nachschub, insbesondere bei der Munition, so müsst ihr aktiv werden. Sprich: Ihr müsst einige Schlachten herausfordern, in denen ihr lautlos und ohne Waffen meuchelt, um Nachschub heranzuschaffen, damit ihr bei den neuen und handlungsrelevanten Stationen bestens gerüstet seid.
Jagged Alliance: Rage! bringt mit all diesen Regeln ein grundsolides und durchaus spaßiges Rundenstrategiegemetzel auf die Bühne, das zwar grafisch und akustisch nicht vom Hocker haut – dazu wirkt die Comicdarstellung etwas zu generisch und das Voice-Acting ein wenig zu erzwungen dramatisch –, aber durch gehobene Tiefe im fortlaufenden Spiel fesselt.
Schade nur, dass die Unterstützung der Xbox One X keine Begeisterungsstürme weckt. Gesteigerte Pixeldichte wird durch heftiges Tearing und einige Ruckeleinlagen erkauft. Das mag bei einem Strategiespiel nicht so störend sein wie bei einem Rennspiel, aber es fällt doch negativ ins Gewicht.
Mehr Spaß im Koop
Solltet ihr euch noch nicht sicher sein, ob ihr dem Spiel eine Chance geben wollt, dann könnte ein ganz bestimmter Faktor das Zünglein an der Waage sein: Habt ihr einen Kumpel, der mitspielen will, oder nicht? Der Online-Koop-Modus, der die komplette Kampagne einschließt, ist erstaunlich spaßig. Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilter Spaß ist doppelter Spaß. Das kann man hier wörtlich nehmen, da buchstäblich die Hälfte der Verantwortung an euren Mitspieler geht und die Missionen dadurch an Übersichtlichkeit gewinnen.
Noch besser wäre dieses Feature, wenn die Entwickler die oft auftretenden Verbindungsprobleme patchen würden. Der Spielleiter einer Sitzung darf den Spielstand jederzeit speichern – das lindert immerhin den Frust. Nach zwei oder drei Verbindungsabbrüchen innerhalb einer Stunde wandern dennoch diverse Flüche in Richtung der Entwickler, gerade weil eigentlich gar kein so großer Datentransfer zwischen den Beteiligten stattfindet. Wie schwer kann es denn sein, so eine Internetverbindung stabil zu halten?
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